Veronika Selega, der ukrainische Pavillon auf der 60. Biennale von Venedig steht unter dem Motto "Net Making" und zeigt Kunst, die für Einigkeit, Widerstandsfähigkeit und kollektives Handeln inmitten von Konflikten stehen soll. Warum haben Sie sich in diesem Jahr für eine Gruppenausstellung entschieden?
Es ist eine bedeutende Errungenschaft; mehrere Kuratoren haben die Künstler für den ukrainischen Pavillon ausgewählt und ihm diesen Titel gegeben. Das Thema zielt darauf ab, die horizontalen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft zu veranschaulichen, insbesondere im Kontext des Krieges. In diesem Jahr sind drei verschiedene Künstlergruppen im Pavillon vertreten. Ein bemerkenswertes Projekt, das von Katya Buchatska entwickelt wurde, zeigt die Arbeit von jungen neurodiversen Künstlern aus der Ukraine. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass neurodivergente Künstler auf der Biennale vorgestellt werden. Glücklicherweise konnten alle von ihnen die Ukraine verlassen und an der Eröffnung des Pavillons teilnehmen. Die anderen Kunstwerke zeigen die Perspektiven und Erfahrungen von Menschen, die direkt vom Krieg betroffen oder ukrainische Kriegsflüchtlinge sind. Wir haben uns dafür entschieden, Werke verschiedener Gruppen auszustellen, weil es jetzt mehr denn je wichtig ist, dass ukrainische Künstler eine breitere Sichtbarkeit und Anerkennung erhalten. Unsere Hauptaufgabe bestand nicht nur darin, Kunst zu schaffen, sondern auch eine Plattform zu bieten, die mehr Unterstützung und Sichtbarkeit bietet.
Sie leben und arbeiten in Kiew. Sehen Sie irgendwelche Veränderungen in der Gesellschaft? Wie finden Künstler Wege, um mit der Kriegssituation umzugehen und weiter zu arbeiten?
Wir haben 26 Kollegen, fast alle leben in Kiew. Die Leute kehren weiterhin aus dem Ausland zurück, nicht, weil sich die Lage im Land stabilisiert hat - im Gegenteil. Der Grund für diese Tendenz ist die Sorge um den Raum, den man Heimat nennt. Viele haben erkannt, dass sie sich ihre Zukunft nicht im Ausland aufbauen können. Sie müssen zurückkommen und die ukrainische Gesellschaft dabei unterstützen, ihr Leben wieder aufzubauen und neu zu erfinden und gemeinsam eine Zukunft zu schaffen. Vor allem Männer fühlen sich schuldig, weil sie ihr Land verlassen haben und kehren nun zurück. Die Gesellschaft gewöhnt sich daran, in ständiger Gefahr zu leben.
Bickerstaff.734 hat das Projekt "The Bomb Shelter Map" entwickelt. Wenn man durch Venedig spazieret, sieht man an Hauswänden Plakate mit Karten von Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Es ist ein starker Kontrast, in einer so idyllischen Umgebung an den Krieg erinnert zu werden. Können Sie das Konzept erläutern?
Die Karten der Luftschutzbunker, die überall in der Stadt hängen, erinnern daran, dass die Gefahr nicht für alle Menschen so weit weg ist, selbst in Ländern, die noch nicht vom russischen Krieg betroffen sind. Hier in Venedig ist der nächstgelegene Luftschutzbunker tatsächlich nur ein paar hundert Meter vom Pavillon entfernt. Die Menschen reagieren unterschiedlich; einige der Plakate wurden von den Wänden gerissen, nicht jeder kann und will sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass der Krieg näher rücken und eines Tages Teil des täglichen Lebens werden kann. Andere Leute zeigten Interesse; nach dem Zweiten Weltkrieg dachte niemand mehr an die Luftschutzbunker. Als wir über die Standorte der Bunker recherchierten, gab uns Google Maps die Information, dass sie "derzeit geschlossen" sind. Wir wollen nicht sagen: "Helft der Ukraine", aber wir wollen die Welt wissen lassen, dass auch die Menschen in der Ukraine vor ein paar Jahren keine Ahnung hatten, wo die Luftschutzbunker sind. Heute sieht die Realität anders aus: Jedes Kind weiß, wo es sich verstecken kann, jeder hat eine Karte, jeder kann sich leicht orientieren, um den nächstgelegenen sicheren Ort zu erreichen.
Nicht alle Menschen können nach Hause zurückkehren, ihre Häuser sind zerstört. Wenn wir über den Titel und das Konzept des "Net Making" nachdenken, wie wird es in einer realen Kriegssituation gelebt?
Wir sehen eine deutliche Veränderung von der individualistischen Wahrnehmung hin zur Kollektivität. Die Menschen bauen stärkere Verbindungen auf und versuchen, sich gegenseitig auf alle möglichen Arten zu unterstützen. Apropos "Net Making": Es gibt eine große Anzahl neuer Migranten im Land. Die Menschen ziehen ständig aus verschiedenen Regionen zu. Und das ist eine neue Tendenz: Die Menschen lernen sich besser kennen, die nationale Migration bringt die Menschen einander näher und eröffnet neue Perspektiven der eigenen Zugehörigkeit. Die Menschen identifizieren sich nicht mehr nur mit einem bestimmten, begrenzten Teil des Landes, sondern mit dem Land als Ganzem und entwickeln ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Mentalitäten verschmelzen, werden kollektiv; Häuser, Erfahrungen, Schmerzen und Schicksale werden geteilt und verwandeln sich in Gemeingüter.
Die westlichen Gesellschaften sind immer noch stark vom Individualismus geprägt; es ist jedoch interessant zu beobachten, dass Menschen in schwierigen Situationen über sich hinauswachsen und einen Sinn für das Gemeinwohl innerhalb ihrer Gemeinschaften entwickeln können. Warum also warten, bis die Apokalypse eintritt?
Diese Transformation und der Wille zum Teilen sind unglaublich stark und inspirierend. Es ist sehr auffällig, dass Kinder mit diesen Ideen des Teilens und der kollektiven Fürsorge füreinander aufwachsen. Sie geben das Konzept der Begrenzung auf und beginnen, nicht mehr in diesen binären Kategorien zu denken, in denen man zwischen "mein" und "dein" unterscheiden muss. Es entwickelt sich eine völlig neue Philosophie mit der Anerkennung des gemeinsamen Raums, des gemeinsamen Aktivismus.
Wie werden sich die Formen und die Sprache der Kunst weiterentwickeln? Sind Ihnen bestimmte Muster aufgefallen, wie ukrainische Künstler auf die Realität reagieren?
In gewisser Weise wird die Kunst zum Beweis. Die wichtigste Veränderung in unserem Land ist die tiefe Verbindung zwischen Kunst und sozialem Leben. Man kann sich die zeitgenössische ukrainische Kunst nicht vorstellen, ohne dass sie die soziale Situation widerspiegelt. Aus diesem Grund reagiert der ukrainische Pavillon genau auf die aktuelle Situation unseres Lebens. Es gibt keinen Raum, um den Fokus auf andere Themen zu verlagern; unsere Kunst ist ein direkter Spiegel unserer Realität.
Wenn selbst in den scheinbar geschützten Teilen der Welt Gefahr droht, wie können wir dann einen sicheren Raum für alle schaffen, sowohl global als auch individuell? Was kann jeder von uns tun, um zu diesem Gefühl der Sicherheit beizutragen?
Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, können ihn nicht in seiner ganzen Tragweite begreifen. Es ist unrealistisch, zu erwarten, dass Menschen aus anderen Ländern unseren Schmerz vollständig verstehen können. Wir können jedoch über unsere Erfahrungen sprechen und Informationen zur Verfügung stellen. Heute ist es wichtig, dass die Ukrainer die Möglichkeit haben, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Indem wir das Bewusstsein für unsere Situation schärfen, wollen wir die Welt für die ukrainische Notlage sensibilisieren, in der Hoffnung, dass dieses gemeinsame Wissen künftige Katastrophen verhindern und zu einer breiteren Anerkennung der Schrecken des Krieges führen kann.
Die Biennale von Venedig ist eine der größten und wichtigsten Kunstveranstaltungen weltweit. Welche Erwartungen haben Sie an die Sichtbarkeit und Unterstützung ukrainischer Künstler? Welche Länder und Institutionen sind an der Finanzierung beteiligt?
Als nationaler Pavillon erhalten wir Unterstützung vom ukrainischen Kulturministerium und verschiedenen Institutionen wie Information Policy of Ukraine, dem Ukrainischen Institut, dem Goethe-Institut, dem British Council, der University of Liverpool, der Artists at Risk Connection (ARC) von PEN America und anderen. Die Teilnahme an einem so großen Ereignis ist die wichtigste Geste, die wir als ukrainische Kunstgemeinschaft ausführen können. Jeder muss auf seiner eigenen Ebene auf die eine oder andere Weise kämpfen. Die Kunst hat die Fähigkeit, das zu visualisieren, was unausgesprochen bleibt, und über das zu sprechen, was nicht sichtbar werden kann. Die Künstler zeigen ihre Realität und geben der Welt ihre Stimme. Wenn das nicht geschieht, wird es keine Transparenz geben; jede Wahrheit kann in der Desinformation untergehen. So kämpfen die Künstler für ihr Überleben und das der Gesellschaft. Die Teilnahme an der Biennale ist für uns obligatorisch, und wir müssen sie so groß wie möglich machen. Wir müssen reden, die Kunst muss reden. Menschen von überall her, aus verschiedenen Disziplinen, müssen zusammenkommen und reden. Die beste Sprache für den Austausch ist die Kunst.
Der Krieg dauert nun schon mehr als zwei Jahre an. Auf der letzten Kunstbiennale in Venedig war die Solidarität mit der Ukraine ein wichtiges Thema. Wie nehmen Sie das heute wahr? Besteht das Interesse noch immer, oder haben Sie das Gefühl, dass die Aufmerksamkeit nachgelassen hat, weil der Krieg zur "neuen Normalität" geworden sein könnte?
Es hat sich viel verändert. Vor zwei Jahren mussten wir hier im ukrainischen Pavillon der Welt zeigen, dass wir am Leben sind. Jetzt hat sich die Herausforderung verlagert, da die Situation durch Desinformation erheblich beeinträchtigt wird. Diese Verwirrung beschränkt sich nicht nur auf die Außensicht; auch wir sind durch die Medienmanipulation verwirrt. Russland stellt ein beträchtliches Budget für Desinformationskampagnen zur Verfügung, die erschreckend professionell sind. Ihr Einfluss ist besonders gefährlich und findet schnell Anklang, vor allem bei den US-Republikanern. Infolgedessen hat sich die Wahrnehmung der ukrainischen Situation heute deutlich verändert. Dieser Wandel ist auch hier zu beobachten, wo die Wahrheit durch ein ziemlich verzerrtes Prisma dargestellt wird.
Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht und die Unterstützung für die Verteidigung gekürzt wird?
Das wird katastrophal sein. Das erleben wir bereits jetzt. Ohne Luftabwehrsysteme können wir uns nicht schützen. Ein Beispiel: Bei dem massiven iranischen Luftangriff auf Israel erreichten dank des robusten israelischen Verteidigungssystems keine Raketen ihr Ziel. Wir warten seit Januar auf ähnliche Schutzsysteme. In der Zwischenzeit ist Charkiw täglichen Angriffen ausgesetzt; wir verlieren Menschenleben, und unsere Energiesysteme und Kernkraftwerke sind in großer Gefahr. Wie können wir angesichts dieser Umstände darauf vertrauen, dass der Rest der Welt nicht auch bald Luftschutzbunker brauchen wird?
Glauben Sie, dass sich Kunstinstitutionen und Museen in Plattformen mit einem viel stärkeren politischen Einfluss verwandeln sollten?
Es kommt immer auf das Land an. Und darauf, wie die Regierung mit Kunstinstitutionen zusammenarbeitet und wie sie die Rolle der Kunst, ihres Landes und ihrer politischen Situation sieht. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich die politischen Systeme mit den Überlegungen von Künstlern und Kunstgemeinschaften auseinandersetzen. Diese Zusammenarbeit würde sicherlich zum beiderseitigen Nutzen führen. Ich glaube, dass es ein Privileg moderner Gesellschaften ist, in einem solchen Ausmaß zusammenzuarbeiten. Während des Krieges in der Ukraine wurden viele neue Institutionen geschaffen, um sich gegenseitig zu unterstützen und mit den Realitäten des Krieges zurechtzukommen. Diese Institutionen stellen neue Denkfabriken dar. Sie denken über die Gegenwart und die Zukunft nach und beziehen Künstler, Philosophen und Kulturexperten mit ein. Ein effektives politisches System ohne Kunst ist daher nicht vorstellbar. Die Systeme verlieren, wenn sie sich die Macht der Kunst nicht zunutze machen.
Welche Zukunftspläne und Hoffnungen haben Sie für Ihre Arbeit und die Situation im Land?
Wie Sie bereits erwähnt haben, leben wir in einer Zeit, die als "New Normal" bezeichnet wird. Das ist wahrscheinlich eine natürliche Art und Weise, mit unerträglichen Situationen im Leben umzugehen, indem man sich an sie anpasst. Wir werden weiterarbeiten und neue Ziele erreichen. Für uns als Agentur ist es unvorstellbar, unsere Arbeit zu machen, ohne die aktuellen Umstände zu reflektieren und zu unterstützen. Wir stellen unsere Erfahrung und unsere Zeit zur Verfügung, und wir tun dies unentgeltlich, um Teil eines Kollektivs zu sein, das für seine Zukunft und sein Land kämpft. Jeder fühlt sich dafür verantwortlich, die Welt, die er verloren hat, zurückzugewinnen.