Syrischer Künstler Tammam Azzam

"Zum ersten Mal seit Jahren kann ich sagen: Ich fühle mich gut"

Der syrische Künstler Tammam Azzam wurde mit Collagen aus Kriegsruinen und Gemälden der Kunstgeschichte bekannt. Hier spricht er über den Sturz des Assad-Regimes, seine Hoffnung und die Debatte über Geflüchtete in Deutschland

Tammam Azzam, in Anbetracht des Sturzes des Assad-Regimes in Ihrem Heimatland Syrien würde ich unser Gespräch gerne mit einer simplen Frage beginnen: Wie fühlen Sie sich?

Zum ersten Mal seit Jahren kann ich sagen: gut. Zumindest in Bezug auf Syrien. Es ist wie das Ende eines endlosen Jahres. Eines 54 Jahre langen Jahres. Unsere Eltern litten schon unter dem Regime, meine Generation litt darunter und natürlich auch die jungen Menschen. Was soll man sagen. Es ist ein großer Sieg. Seit Tagen wache ich immer wieder nachts auf und kann es nicht glauben: "Er ist weg. Es ist wahr. Assad und die ganze Familie. Sie sind weg", denke ich dann. 

Sie blicken also voller Hoffnung in die Zukunft des Landes?

Nichts ist schlimmer oder kann schlimmer werden als das Assad-Regime. 

Unter dessen Herrschaft Sie ja auch bildende Kunst in Damaskus studiert haben. Wie war das?

Ich meine, Syrien war und ist immer noch ein normaler Ort, ein normales Land, in dem das Leben jedoch unter der Schreckensherrschaft Assads sehr, sehr hart war. Niemand außerhalb Syriens kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn man seine Stadt mag, wenn man die Gemeinschaft mag und das Leben dort genießt, aber es diesen großen Druck gibt, diese Angst, etwas falsch zu machen. Du kannst nie frei sein, nie tun oder denken, was du willst. Es reichte schon ein falscher Kommentar auf Facebook. Menschen gingen für ein Like oppositioneller Inhalte ins Gefängnis. Bevor das Assad-Regime fiel, war ich sogar hier in Deutschland extrem vorsichtig in Interviews. Ich habe versucht, Assad nicht zu erwähnen, da meine Eltern auch noch in Syrien leben. Ich habe sie jedoch ab und zu in London treffen können, wo meine Schwester lebt.

Ich stelle mir vor, dass ein Kunststudium in einem solchen Regime auch immer politisch und ideologisch beeinflusst ist. Wie frei konnten Sie Ihren künstlerischen Ausdruck entfalten?

Kunst zu studieren, war schon als Kind mein Traum, also verfolgte ich diesen und studierte vier Jahre bildende Kunst an der Kunstakademie in Damaskus, an der ich 2001 meinen Abschluss machte. Ich entschied mich dann jedoch, als Grafikdesigner zu arbeiten, da es unmöglich war, von der Kunst in Damaskus zu leben. Nach der syrischen Revolution 2011 verließen ich und meine Familie Syrien und wir gingen nach Dubai. Dort begann ich, digitale Kunstwerke zu machen und bekannte Bilder der Kunstgeschichte in die Kriegsruinen Syriens zu montieren. Diese Art der kritischen Kunst wäre in Syrien nicht möglich gewesen. Wenn du in Syrien lebst, gibt es etwas in dir, was dein eigenes Verhalten konstant beobachtet, um nicht zu riskieren, festgenommen zu werden. Es war jedoch immer einfacher, visuelle Kunst zu machen, als zu schreiben, weil es weniger konkret ist als Worte. Allerdings gab es auch unendlich viele Künstler, die bis zu diesem Moment ins Gefängnis gekommen sind. Am Ende war es dem Regime egal, welche Kunst du gemacht hast, aber es war niemals egal, wenn sie kritisch war. 

Haben Sie deswegen Syrien verlassen?

Ich arbeitete mit einer jungen Galerie, die sich seit 2007 in Damaskus etabliert hatte. Die Galerie entschied dann 2011, nach dem Beginn des Krieges, nach Dubai umzuziehen und bot mir und einigen anderen ihrer Künstler Unterstützung und die Möglichkeit an, mitzukommen. Wir hatten großes Glück. Zu dem Zeitpunkt war es in Syrien schon sehr schlimm, und es wurde in den letzten Jahren nur schlimmer. 13 Jahre lang ...

Vor 13 Jahren waren Sie zum letzten Mal in Syrien?

Genau. September 2011.

Reisen Sie nun hin? 

Ich versuche, Flüge zu bekommen. Jedoch ist der Flughafen in Damaskus noch gesperrt.

Es ist ganz bewegend zu sehen, wie sehr Sie sich freuen, wie erleichtert Sie scheinen.

Es ist das erste Mal seit so vielen Jahren. Der Zustand Syriens war wirklich ein Albtraum. Ein Albtraum ohne Horizont – für uns alle. Ich wusste lange nicht, was passieren würde. Ob wir hier in Berlin bleiben würden oder zurück nach Dubai gehen. Aber Syrien, das war nie eine Option in diesen Gedanken. Und auf einmal, wie aus dem Nichts, können wir wieder Pläne für unsere Zukunft schmieden – auch in Syrien. Wir wissen noch nicht, wie wir uns entscheiden werden, aber es gibt die Option. Wir haben plötzlich wieder ein Heimatland, in das wir zurückkehren könnten. 

Sie sind für die schon zuvor erwähnten digitalen Collagen altmeisterlicher Werke mit den syrischen Bürgerkriegsruinen sehr bekannt geworden, bei ihnen ist der politische und persönliche Bezug sehr deutlich. Wie ist das in Ihren neueren Arbeiten? Sie sind größtenteils Mischwerke aus Malerei und Collage, wobei der collagierte Anteil aus von Ihnen präparierten bemalten Papieren besteht. Sie haben unter anderem Berliner Straßenansichten so dargestellt. Auch die Schöneberger Bundesallee wirkt in einer dieser Arbeiten zerbrechlich und fragmentiert, wie eine verwundete Stadt. Ich nehme an, Sie werden oft mit der Annahme konfrontiert, dass sich Ihre Herkunft und Ihre persönlichen Erfahrungen in Ihrem gesamten Oeuvre eine große Rolle spielen? 

Wenn man meine Arbeiten betrachtet, dann sind sie in erster Linie Kunst – und jeder deutet Kunst anders. Aber weil ich Syrer bin, interpretieren die Betrachtenden meist auch meine Identität in die Bilder mit hinein – was ich nicht leiden kann. Aber was soll ich machen. Ich arbeite am Kunstwerk selbst, nicht an der politischen Frage.

Es erscheint ungerecht, da die Arbeit der meisten männlichen Künstler des globalen Nordens nicht sofort unter dem Gesichtspunkt der Identität betrachtet wird, auch wenn sie sicherlich in gleichem Maß in ihrem Werk sichtbar wird. 

Das stimmt. Und es ist eigentlich auch ein sehr wichtiger Punkt für meine Arbeit: Zerstörung gab und gibt es auf der ganzen Welt. Ok, ich habe einen Teil davon persönlich erlebt, weil ich Syrer bin, aber es ist nicht mein Ziel, syrische Kunst zu machen. Ich mache Kunst über die andauernde Destruktion und die Zerbrechlichkeit der Welt. Deswegen habe ich auch Goyas "Erschießung der Aufständischen" in die Straßen von Damaskus montiert. Ob Napoleon oder Assad, es ist das gleiche. Egal ob heute oder vor 200 Jahren. 

In Ihren Straßenansichten Berlins lässt sich natürlich auch gut die fragmentierte und zerrissene Vergangenheit und Gegenwart der Stadt entdecken. Sie tragen eine Zärtlichkeit in sich. 

Berlin ist jetzt meine Stadt. Wenn ich also heute Morgen Berlin fühle und abbilde, möchte ich die Verbindung zwischen Berlin und meinen Erinnerungen ausdrücken. Vielleicht mit der Farbe des syrischen Himmels oder mit der Farbe der Straßen in Dubai. Aber am Ende ist es Berlin. Die Komposition, die so entsteht, drückt etwas aus, das über die Destruktion hinausgeht, und auch über die politische Zerstörung der Welt. Vielleicht löst sie eher die gesellschaftlichen Paradigmen an sich auf. Vielleicht auch nicht. Meine Bilder entstehen gleichermaßen aus Erinnerungen und Fantasie. Die Atmosphäre des Moments ist das eigentliche Sujet.

Haben Sie Kontakt zu Künstlerinnen und Künstlern, die in Syrien geblieben sind? 

Mein bester Freund ist dort geblieben, wir sind immer noch in Kontakt. Es war sehr, sehr schwer für ihn, die letzten 13 Jahre zu überstehen. Es war fast unmöglich, in oder außerhalb Syriens auszustellen. Ich hoffe, dass es jetzt ein bisschen einfacher wird. 

Während des Bürgerkriegs gab es immer wieder Berichte, dass insbesondere in den vom Islamische Staat besetzen Gebiete Kunst bis hin zu kulturellem Erbe der Menschheit zerstört wurde.

Es war eine absolute Katastrophe. Aber auch das Assad-Regime hat zuvor überall Kunst zerstört und geklaut, auch in Palmyra, überall im Land. Wir wussten das. Alle wussten das. Und vieles davon wurde auch dem IS zugeschrieben, weil es auch gut in die Geschichte gepasst hat, zu dieser extremistischsten, brutalsten Organisation, zu ihren miserablen Methoden und der entfesselten Gewalt. Und nichts daran ist überraschend. Aber die westlichen Medien interpretieren alles was im Nahen Osten passiert auf eine sehr radikale und binäre Art. Ich kann nicht jedes Mal erklären, wie genau meine Haltung dazu ist. Es ist zu komplex. Ich bin gegen den IS und gegen das Assad-Regime, gegen so viele Ideologien und Gruppierungen die nicht zur Freiheit des syrischen Volkes beitragen. 

Wie schätzen Sie Haiʾat Tahrir asch-Scham, das islamistische Bündnis verschiedener Milizen, das das Assad-Regime stürzte, ein? Die Organisation wird unter anderem von der EU und den USA als Terrorgruppe eingestuft. 

Ich vertraue ihnen nicht, aber ich vertraue auch nicht bedingungslos auf die Einschätzungen des Westens, die häufig sehr subjektiv sind. Der beispielsweise die Hamas als Terrororganisation betrachtet, aber nicht Benjamin Nethanjahu und seine Regierung. Wir müssen an Gerechtigkeit glauben und darauf vertrauen, dass sie siegen wird. Es gibt gerade so viele Gruppierungen, die versuchen, ihre Interessen zu verteidigen und zusammenzuarbeiten. Das ist ein historischer, großer Moment. Was er bringt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

Haben Sie das Bedürfnis, zu diesem Moment beitragen zu wollen?

Nicht in der Politik, aber kulturell, in der Kunst. Mit kleinen Schritten in der Zukunft.

Wie war es denn eigentlich bisher für Sie in Deutschland zu leben?

Als wir nach Deutschland kamen, waren wir erst zwei Jahre in Delmenhorst. Dort war ich wahnsinnig produktiv. Es hat meiner Arbeit sehr gutgetan, aber wir waren sehr einsam nach sechs Jahren Dubai. Bis wir nach Berlin gezogen sind. Hier gibt es eine große Community, viele Galerien, es ist immer was los. Und es ist schwerer, den Fokus auf die Arbeit zu richten. Ich liebe Berlin, aber wir denken noch darüber nach, wo wir leben sollen. 

Sie haben eine deutsche Galerie, Ihre Tochter ist in Deutschland zur Schule gegangen und macht gerade ihr Abitur. Wie fühlt es sich für Sie an, wenn nur wenige Tage nach dem Sturz des Regimes, in einer politisch sehr ungenauen Lage der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ankündigt, dass über die Rückführung syrischer Geflüchteter in Deutschland gesprochen werden muss?

Es fühlt sich an wie ein Wahlkampfversprechen auf dem Rücken der Menschen. Man muss jetzt die Situation beobachten und abwarten. Wenn sich Syrien stabilisiert und in ein, zwei Jahren ein sicherer Ort wird, klar. Dann muss man die Asylbedingungen neu aushandeln. Aber dann wollen wir doch eh alle zurück. Ich glaube an die Gleichheit der Menschen auf der Welt. Genau deswegen muss man sich aber auch mit Standpunkt und den Ängsten der anderen auseinandersetzen. 

Glauben Sie, dass sich der Regime-Wechsel auch in Ihrer Kunst niederschlagen wird? 

In Damaskus habe ich etwas komplett anderes gemacht als in Dubai und in Deutschland etwas komplett anderes als in Dubai. Ich änderte nicht nur meine Techniken, sondern auch meine Sujets. Ich habe eine Idee, die mit syrischen Landschaften zusammenhängt. Aber es braucht noch Zeit. Es ist ein langer Prozess. Für meine Kunst und für Syrien.