Cora Wucherer, auf dem Cover Ihres Buchs sieht man eine Jesus-Darstellung von Elías García Martínez, die 2012 spontan von einer Spanierin übermalt wurde. Der Fall ist damals viral gegangen. Was hat das Interesse so vieler Menschen geweckt?
Das ursprüngliche Jesus-Fresko hat man in ähnlichen Formen schon Tausende Male gesehen. Es gibt solche Fresken in sehr vielen Kirchen, deswegen löst es vielleicht auch nicht unbedingt etwas in einem aus. Das übermalte Bild hingegen tut das sofort, weil es einzigartig ist – und lustig. Man muss unweigerlich lachen oder fragt sich: Oh Gott, was ist da denn passiert? Über den Fall ist sogar ein Theaterstück geschrieben worden. Die menschliche Fehlbarkeit, die bei diesem Vorfall sichtbar wird, löst Gefühle in uns aus, und bringt uns zum Nachdenken. Ich habe mich im Museum selbst schon so oft gefragt, was passieren würde, wenn ich ein bisschen zu nah an eine Skulptur kommen, oder etwas kaputt machen würde – diese Gedanken kennen viele.
Kann die Beschäftigung mit Kunstunfällen diese "Was wäre, wenn …"-Gedanken befriedigen?
In gewisser Weise ist es eine Katharsis. Wenn wir betrachten, wie andere Menschen diesen Horror durchleben, können wir uns davon reinigen, ohne ihn selbst erleben zu müssen.
Hat das auch etwas mit Schadenfreude zu tun?
Ja, ich glaube schon. Unsere unmittelbare Reaktion auf solche Fälle ist oft Lachen. In den Jahren ab 2005 waren ja auch Sendungen wie "Upps! Die Pannenshow" total beliebt. Die Kunstunfälle befriedigen ein ähnliches Bedürfnis.
Manche Werke regen scheinbar zum Mitmachen an. In Ihrem Buch beschreiben Sie zum Beispiel, dass eine Rentnerin in einem Museum ein Kreuzworträtsel, das Teil einer Collage von Arthur Köpke war, ausgefüllt hat. Steckt in dem Eingreifen und Verändern des Werks auch ein künstlerischer Akt?
Wenn man "Kunst" googelt, ist eine Definition: das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Wenn man es unter dem Aspekt betrachtet: dann ja. Darüber, ob das Ergebnis in solchen Fällen aber wirklich Kunst ist, kann man sich streiten. Zumindest steckt etwas Künstlerisches oder Spielerisches dahinter.
Welche Reaktionen gab es von Künstlern und Künstlerinnen auf zerstörte Werke?
Die Reaktionen sind super unterschiedlich. Es gab zum Beispiel eine Installation aus Rettungsfolien in einer Kirche, die von einer Reinigungskraft in eine Mülltonne geworfen wurden. Ich habe mit der Künstlerin Romana Menze-Kuhn gesprochen und sie sagte, dass sie im ersten Moment entrüstet und wütend war, dann aber noch einmal nachgedacht habe und aus den Folien, die erst im Müll gelandet waren, ein neues Kunstwerk geschaffen habe - aus "Behausung 6” wurde "Behausung 6a”. Im Fall des Jesus-Freskos haben die Nachfahren des verstorbenen Künstlers Elías García Martínez die Frau, die es übermalt hat, verklagt.
Es gibt einige Beispiele, in denen Putzkräfte oder Hausmeister Kunst entsorgen, weil sie sie nicht als solche verstehen. Zeigen uns die Beispiele von Kunstunfällen auch etwas über Klassismus?
Ja. Ich finde, man muss dringend von Aussagen wie "Der blöde Hausmeister hat nicht verstanden, was für ein unglaublicher Wert in dieser Kunst steckt" Abstand nehmen. Die allermeisten Fälle haben nichts mit mangelnder Intelligenz oder Respekt zu tun, sondern waren einfach Missgeschicke oder Missverständnisse. Viele sind einfach nur ihrem Beruf nachgegangen, der nicht abgewertet werden sollte.
Ein prominentes Beispiel dafür ist die "Fettecke" von Joseph Beuys. In seinem Atelier hat er fünf Kilo Butter an eine Wand geschmiert. Als sie ranzig wurde, hat ein Hausmeister sie einige Monate nach seinem Tod weggeputzt.
Beuys ist schon zu Lebzeiten kontrovers diskutiert worden, manche haben seine Werke auch als "Kunstmüll" bezeichnet. Gerade in der modernen und postmodernen Kunst verschwimmen immer mehr die Grenzen, ob etwas Kunst ist oder nicht.
Was ist Ihr persönliches Verständnis von Kunst?
In dem Jugendbuch "Eleanor & Park" von Rainbow Rowell gibt es einen schönen Vergleich, mit dem Eleanor beschrieben wird. Darin heißt es: "Sie sah nie schön aus. Sie sah aus wie ein Kunstwerk, und Kunst musste nicht schön sein; Kunst sollte etwas in einem auslösen." Darin orientiert sich auch meine persönliche Definition von Kunst, dass sie Emotionen wecken soll. So ist es auch bei der "Fettecke" von Beuys. Sie muss nicht schön sein, aber sie löst irgendwas bei mir aus. Vielleicht auch nur Wut oder Irritation
Gibt es einen Kunst-Unfall, der Sie besonders berührt hat?
Vor allem eine Geschichte, in der der Künstler gleichzeitig der "Zerstörer” war. Der britische Künstler Tom de Freston hat gerade eine Ausstellung vorbereitet und wollte noch ein Werk mit einem Schneidbrenner veredeln. Das Bild hat Feuer gefangen, und aus Versehen hat er sein ganzes Studio abgebrannt, in dem er seine Werke aus einer ganzen Dekade gelagert hatte. Aus den verkohlten Stücken hat er irgendwann eine neue Ausstellung gemacht – und gemeinsam mit seiner Frau ein Kinderbuch über Verlust geschrieben.
Das ist tragisch – gab es auch ein Beispiel, dass Sie zum Lachen gebracht hat?
Jeff Koons hat eine sehr bekannte Reihe aus Porzellan-Skulpturen, die aussehen wie Plastikballons. Auf der Kunstmesse Art Wynwood in Miami ist eine Person dagegen gestoßen und sie ist in tausende Scherben zerbrochen. Danach haben sich einige Menschen gemeldet, die selbst die Scherben für hohe Preise kaufen wollten. Das zeigt auch, wie absurd der Kunstmarkt teils ist.
Zeigt uns das die Vergänglichkeit in Kunst?
Viele Kunstwerke sind vergänglich, weil sie irgendwann keine Aufmerksamkeit mehr bekommen. Sie werden eingelagert und vergessen. Bei Kunstunfällen blüht oft noch einmal die Aufmerksamkeit auf. Werke, die gar nicht mehr in der ursprünglichen Form existieren, bekommen ein kurzes Wiederaufleben. Der Mythos, die Geschichte darüber macht sie vielleicht erst wirklich unvergänglich.
Was lehren uns Kunstunfälle noch über die Kunstwelt?
Vor allem bringen sie uns dazu, die Logiken des Kunstmarktes zu hinterfragen und sich mit der Definition und dem Wert von Kunst auseinanderzusetzen. Mein Verständnis von Kunst hat sich durch meine Recherche gar nicht so sehr verändert, dafür aber das von Menschen. Wir alle sind fehlbar.
Wenn Sie heute ins Museum gehen, bewegen Sie sich vorsichtiger?
Ich gebe mir sehr viel Mühe, nicht zu nah an Bilder hinzugehen. (Lacht)