Trendanalyst Julian Daynov

"Es braucht nur eine Prise Magie, damit deutsche Mode viral gehen kann"

Mehr als Socken in Sandalen: Mit dem Kollektiv Neudeutsch will der Modeexperte Julian Daynov Design made in Germany auf die Weltbühne bringen. Ein Gespräch über junge Talente und alte Vorurteile
 

Julian Daynov, Sie sitzen an den Schnittstellen des zeitgenössischen Lifestyles und haben bereits als Kreativdirektor, künstlerischer Berater, Designer, Trendanalyst und Markenscout gearbeitet und globale Modehäuser und Einzelhandelsketten beraten. Auch werden Sie als Botschafter und Gastdesigner zu Modenschauen eingeladen. Neudeutsch ist Ihr neuestes Projekt, mit dem Sie eine globale Bühne für deutsche Kreative schaffen möchten. Können Sie das Projekt in ein, zwei Sätzen erklären?

Neudeutsch ist ein reisendes, von mir initiiertes und kuratiertes Schaufenster, das eine neue Welle von in Deutschland hergestelltem Design feiert. Die Arbeiten von Kreativen aus unterschiedlichen Bereichen werden auf Mode- und Designplattformen, Modewochen und Kunstausstellungen ausgestellt. Es ist ein philanthropisches Projekt, das durch Messepartner wie die Pitti Uomo in Florenz oder die Copenhagen International Fashion Fair, die noch bis zum 30. Januar läuft, unterstützt wird und durch diese Zusammenarbeit existieren kann. 

Was bedeutet Neudeutsch für Sie?

Es steht für mich für eine moderne, offene Mentalität, die gegenwärtige Talente wertschätzt, die in einem deutschen Kontext gewachsen sind. Ihr Design-Narrativ geht über die stereotype Vorstellung hinaus, dass deutsches Design rein funktional und pragmatisch sein muss. Sie hinterfragen, was schön, nützlich, geschmackvoll und zeitgemäß ist. Ich habe das Gefühl, alteingesessene Deutsche nutzen das Wort "neudeutsch" mit einer gewissen Skepsis. Etwas Neudeutschem kann leicht mit Zweifel und Abwehr begegnet werden. Daher passte der Begriff für mich auch symbolisch so gut zu dieser neuen Bewegung. Es geht um mehr Akzeptanz von deutschen Talenten, die eine eigene ästhetische Sprache erfinden und um Organisationen, die an sie glauben und sie fördern.

Wie kam es zu der Idee? Welche Lücke oder welchen Bedarf haben Sie gesehen?

Ein Teil meiner Arbeit als Portfolio-Berater und Einkäufer bestand über die Jahre darin, neue Marken und Designs, neue Ästhetiken und Kreationen zu finden und zu präsentieren. Sehr oft wurde ich hierbei mit einem besonderen Misstrauen gegenüber aus Deutschland kommendem Design konfrontiert. Ich habe auf meinen Scouting- und Sourcing-Reisen zahlreiche deutsche Designer aus verschiedenen Bereichen kennengelernt und hatte das Gefühl, dass sie eine größere Bühne brauchen als ihr Heimatmarkt hergibt. Daraus ist die Idee entstanden, ein Projekt zu kuratieren, dass deutsches New-Wave-Design auf Messeplattformen präsentiert, wo einflussreiche Multiplikatoren zugegen sind und so Geschäftskontakte und Platzierungsmöglichkeiten im Einzelhandel geschaffen werden können.

Wie würden Sie stereotypes deutsches Design beschreiben?

Eine führende Mode-Nation sind wir nicht. Wir sind nicht unbedingt für eine mutige, richtungsweisende Designsprache bekannt. Außer Jil Sander und den berühmt-berüchtigten Socken in Sandalen können wir nicht viele Mode-Wahrzeichen vorzeigen. Die Deutschen sind für mich eher strategische Anpasser, wenn es um Trends und Design geht. Sie sind zwar nicht die Ersten, die radikale modische Veränderungen aufgreifen, aber sie sind gut darin, Trends so zu verfeinern, zu perfektionieren und zu integrieren, dass sie mit ihren Werten wie Funktionalität, Zweckmäßigkeit und Nachhaltigkeit übereinstimmen. 

Warum wird Deutschland oft als chronisch "unmodisches" Land angesehen?

Ich glaube nicht an Klischees oder vereinheitlichende Muster, jedoch gibt es einen starken Stilcode im deutschen Design, der mit einer Mentalität des "bloß nicht Auffallen" verbunden ist. Konsum und die Wertschätzung eines Produkts sind eher mit dessen Praktikabilität verbunden als mit einer Emotionalität. Die Lebensdauer des Produktes wird bedacht, der Nachhaltigkeitsaspekt und ob es wirklich benötigt wird. Design und Ästhetik wurden immer als weniger ausschlaggebende Faktoren anerkannt, jedenfalls früher. Heute ist das meiner Einschätzung nach anders, was deutsches Design auch international reizvoller und interessant macht. 


Woran könnte das liegen?

Neben einem eher vorsichtigen, zeitlosen und zweckmäßigen Kaufverhalten, in dem Modebewegungen langsamer adaptiert werden können, hat Deutschland eine reiche Geschichte an Underground-Kulturen. Natürlich gerade Berlin. Die hier entstandenen avantgardistischen Bewegungen haben weltweit den Stil beeinflusst. Von der Punk- und Techno-Szene über experimentelle Straßenmode bis zum Do-it-yourself-Ethos und der Clubkultur – diese Subkulturen machen Deutschland zu einem Nährboden für alternative Trends. Sowohl der Endverbraucher als auch die Kreativdirektoren und Designer globaler Marken wie Saint Laurent, Balenciaga oder Gucci lassen sich hier inspirieren. So halten sich funktionales Design und ein zukunftsorientierter spirit die Waage.

Welchen Einfluss hat gerade die jüngere Generation auf diese Entwicklung?

Was mich am meisten fasziniert, ist, wie junge Menschen in Deutschland Mode als eine Form von Selbstdarstellung, Protest, Befreiung, Spaß und Aktivismus nutzen. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein für Nachhaltigkeit und ethische Mode, und viele entscheiden sich für gebrauchte, upgecycelte oder lokal produzierte Stücke anstelle von Fast Fashion. Sie verbinden klassische deutsche Funktionalität mit mutigen, individuellen Akzenten, die ihre Werte widerspiegeln. Seien es ein geschlechtsneutrales Styling, Streetwear-Einflüsse oder eine Mischung aus Vintage- und Hightech-Ästhetik.

Woher kommen die neuen Einflüsse?

Ein faszinierender Aspekt ist, wie die digitale Kultur die Art und Weise, wie sie Mode erleben, kanalisieren, stylen und konsumieren, verändert hat. Social-Media-Plattformen und Online-Communitys inspirieren junge Deutsche dazu, mehr zu experimentieren und sich mit globalen Modetrends zu verbinden, ohne dabei ihre einzigartige, lokale Identität zu verlieren. In Städten wie Berlin sieht man eine furchtlose Herangehensweise an das Mischen von Stilen.

Was machen die von Ihnen ausgewählten Neudeutsch-Designer anders oder richtig, was vorher vielleicht gefehlt hat?

Beim Kuratieren und bei der Präsentation von bereits drei ziemlich großen Neudeutsch-Ausgaben erstaunt mich jedes Mal aufs Neue die natürliche Reaktion der Besucher. Einkäufer, Presse oder Ausstellerkollegen sind fasziniert davon, die neuen Designs zu entdecken und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Ich liebe auch die Reaktionen vieler Deutscher, die vorbeikommen. Nach einem kurzen Rundgang über unser Gelände sagen sie mir: "Krass, wir sind ja gar nicht so schlecht" oder "Wow, das hätte ich jetzt aber echt nicht erwartet". Es sind durchweg positive Reaktionen und Rückmeldungen, allein das spricht Bände. Auch über die generelle Unsicherheit der Deutschen, wenn es um Pionierarbeit in ästhetischen Disziplinen geht.

Was sind die Schlüsselfaktoren, die ein Design heute erfolgreich machen, und wie wählen Sie die Marken aus, die in Neudeutsch vorgestellt werden?

Ich lasse mich natürlich von meiner persönlichen ästhetischen Wertschätzung für Design leiten. Aber da ich aus dem Einzelhandel komme, weiß ich, dass kommerzieller Erfolg ein wichtiger Motor und Wachstumsfaktor für jeden Designer, Künstler oder jede Marke ist. Die künstlerische Extravaganz vieler Designer fasziniert mich. Ich bin aber davon überzeugt, dass ohne eine gewisse Tragbarkeit, ein massentaugliches Begehren und einen angemessenen Preis das Wachstum und letztlich die Existenz dieser Design-Poeten gefährdet werden kann. Von daher ist auch das ein Faktor, wenn ich im Prozess des Kuratierens stecke. Ich wähle jeden einzelnen Designer und jede Marke persönlich aus, nachdem ich die Kreationen über mehrere Saisons hinweg verfolgt und ihre Entwicklung nicht nur in ihrer Design-Handschrift, sondern auch in ihrem geschäftlichen Wachstumsmodus analysiert habe.

Was erwartet die Besucher in der aktuellen Neudeutsch-Edition während der Copenhagen International Fashion Fair (CIFF) in Kopenhagen?

Bei der diesjährigen Ausgabe von Neudeutsch in Kopenhagen präsentiere ich 40 Lifestyle-Marken aus unterschiedlichsten Lebensbereichen, die uns alle täglich begegnen: Mode, Interieur, Schönheit, Kunst, Ernährung, Handwerk, Technologie – sie alle sind vertreten. Jeder Kreative, der Teil von Neudeutsch ist, hat sein eigenes standing, und ich bewundere ihre künstlerische Vision und ihr Engagement für das, was sie tun. Es ist ein Privileg, das aus nächster Nähe beobachten zu dürfen.

Besteht Neudeutsch im Laufe der Zeit aus denselben Marken, oder entwickelt sich das Kollektiv weiter?

Die Idee des Kollektivs ist es, immer wieder andere Marken und Designer zu präsentieren. Einige von ihnen lade ich jedoch gerne wiederholt ein, weil ihre Arbeiten von der Presse oder den Einkäufern so gut aufgenommen wurden. Die Zahl der Marken hat sich genauso entwickelt wie die Idee selbst - von weniger als 20 bei der ersten Show auf der Pitti Uomo sind wir jetzt bei 40 Namen bei der dritten Ausgabe von Neudeutsch während der CIFF in Kopenhagen.

Warum haben Sie die CIFF als Veranstaltungsort für die nächste Neudeutsch-Kuration gewählt? Was haben skandinavisches und deutsches Design gemeinsam, und wo liegen die Unterschiede?

Mir gefiel die Design-Affinität der Skandinavier schon immer, ihr Interesse an Ästhetik und ihr persönlicher Stil. Sie sind dazu sehr offen für neue, junge Unternehmen mit unkonventionellen Ideen. Durch das positive Feedback der letzten Edition ist dieses Mal in Kopenhagen alles noch größer, und es sind auch mehr Aktivitäten geplant. Die CIFF unterstützt alle Marken, die in Neudeutsch vertreten sind, mit all ihrer Kommunikationskraft und ihrem branchenübergreifenden Netzwerk. So haben wir viel Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit erzeugen können. Kopenhagen ist die Anlaufstelle für alle, die etwas über die neuen Lifestyle-Trends und Designthemen lernen wollen. Dass wir hier so präsent dabei sein dürfen, ist eine echte Ehre.

Neben dem Design ist Dänemark, und gerade Kopenhagen, auch in der Mode groß. Die Copenhagen Fashion Week hat sich innerhalb kurzer Zeit durch wichtige Alleinstellungsmerkmale, vor allem in der Nachhaltigkeit, zu einer ernstzunehmenden Alternative zu den vier großen Modewochen gemausert. Die Berliner Fashion Week wird im Vergleich zu anderen oft als weniger prominent angesehen. Wie können deutsches Design und deutsche Ästhetik an Relevanz gewinnen und sich als fester Begriff etablieren?

Um es auf den Punkt zu bringen: Dieses Geschäft wird immer mehr durch Marketing, Hype-Kultur und schlaue PR angetrieben und weniger durch Design und Kreativität. Die deutsche Modeindustrie hat unglaubliche Stärken. Präzision, ein gesunder Fokus auf Nachhaltigkeit und innovative Handwerkskunst. Was ihr fehlt, um international stärker wahrgenommen zu werden, ist ein kohärenter und überzeugender Storytelling-Ansatz. Im Gegensatz zu Modemächten wie Frankreich oder Italien hat sich in Deutschland noch keine weltweit anerkannte Modeidentität herausgebildet, die beim internationalen Publikum Anklang findet. Ein weiterer Faktor ist die relativ bescheidene Präsenz der deutschen Modehäuser auf der Weltbühne. Zwar gibt es in Deutschland einige aufstrebende Designer und talentierte Marken, doch steht bei ihnen oft die Funktionalität im Vordergrund und kein glamouröses Narrativ, von dem die Luxusmode lebt. Auch könnten die Investitionen in Marketing und globalem Branding stärker sein. 

Wie denn?

Die deutsche Mode neigt dazu, pragmatisch und zurückhaltend zu sein. Um international konkurrenzfähig zu sein, braucht sie mehr Mut, definitiv mehr Sichtbarkeit und eine stärkere Verbindung mit der Popkultur, Kooperationen mit globalen Influencern, Prominenten, der Kreativindustrie und Künstlern, die dazu beitragen könnten, die deutsche Mode ins Rampenlicht zu rücken. Ich glaube, wenn die Branche ihre Stärken nutzen und gleichzeitig ein emotional ansprechendes Image entwickeln würde, das dem Zeitgeist entspricht, könnte sie sich als Powerplayer für die Zukunft der Mode positionieren.

Wie sieht es mit der Berlin Fashion Week aus? Funktioniert das Format?

Ein großes Veranstaltungsmedium wie eine offizielle Modewoche ist definitiv eine sehr vorteilhafte Initiative in Bezug auf Sichtbarkeit, Relevanz und Exposition. Und das ist es, was das deutsche Design am meisten braucht. Der Kern ist bereits vorhanden und sehr solide, es braucht nur eine Prise Magie, um eine gewisse Anziehungskraft zu entwickeln. So könnte deutsche Mode viral gehen.

Was ist Ihre langfristige Vision für Neudeutsch? Und was ist Ihrer Meinung nach in der Zukunft des deutschen Designs möglich?

Das Interesse an Neudeutsch wächst. Internationale Plattformen aus den USA, aus Paris, Mailand, Hongkong, Tokio und Seoul haben uns bereits zu sich eingeladen. Ich wünschte nur, was wir tun, würde auch in Deutschland selbst und von lokalen Behörden erkannt und unterstützt werden. Denn bisher finanzieren im Ausland sitzende Organisationen unser Kollektiv und setzen sich für unsere Sichtbarkeit ein. Es ist ein großartiges Gefühl, dass unser Design weltweit Anklang findet. Aber um ehrlich zu sein, würde ich mich auch sehr darüber freuen, wenn unsere deutschen Verbraucher dem lokalen Design mit der Offenheit und Wertschätzung begegnen würde, die es verdient.