Die Menschen werden immer älter. Und sie wollen immer länger leben. Erst kürzlich verkündete die Performance-Legende Marina Abramović (77), sie peile die 103 an – mindestens. Applaus in den Medien, was sonst? Bei anderen Menschen, die über den Tod nachdenken oder damit konfrontiert sind, ist das Interesse der Öffentlichkeit merklich geringer. Oder gar nicht vorhanden. Hier setzt Gregor Schneider an: Mit seinem Projekt "Ars Moriendi. Sterben im öffentlichen Raum", das im Oktober in München startet, gibt der in Rheydt lebende Künstler jenen Todgeweihten ein Bild und eine Stimme, die nicht im Rampenlicht stehen. Ihr Vermächtnis überliefert eine App, mit der Schneider die Verbindung zum öffentlichen Raum herstellt.
Schneider hat in der Vergangenheit immer wieder die Endlichkeit des Daseins zum Thema seiner Kunst gemacht. Mit dem mittlerweile legendären Biennale-Pavillon "Totes Haus u r" legte er 2001 den Grundstein für eine Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, die in der zeitgenössischen Kunst ihresgleichen sucht. Erwähnt seien der "Cryo-Tank Phoenix", die Außenskulptur "End" für das Museum Abteiberg in Mönchengladbach, der "Kreuzweg" in der St. Matthäus-Kirche in Berlin oder – besonders bekannt und umstritten – der "Sterberaum", den er 2021 im Staatstheater Darmstadt gezeigt hat. Über sein neues Projekt "Ars Moriendi. Sterben im öffentlichen Raum" haben wir vorab mit dem Künstler gesprochen.
Herr Schneider, wie kam es zu der Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen?
2021, während der Corona-Krise, als alle kulturellen Einrichtungen geschlossen waren, konnte ich den "Sterberaum" im Staatstheater Darmstadt als einen Gedenkraum für die an Corona Verstorbenen realisieren. Damals durften sich viele Menschen nicht von ihren einsam sterbenden Angehörigen in den Heimen verabschieden. Der "Sterberaum" wurde zu diesem Zeitpunkt als ein Gedenkraum wahrgenommen. Dieses Mahnmal stand auf der Bühne und wurde live gestreamt. Die Zuschauer waren allein vor dem gestreamten Bild – aber zugleich vereint mit den anderen Menschen vor dem Stream. Sie sahen den leeren "Sterberaum" und eine anonymisierte Person, die stellvertretend drei Tage lang rund um die Uhr dort die Totenwache hielt. Mein aktuelles Vorhaben passte inhaltlich zum aktuellen Kammerspiele-Themenschwerpunkt "Alter/Einsamkeit". Und zu dem Ziel, das Haus mit dem Programm in die Stadt zu öffnen.
Wer bei Ihrem Projekt mitwirken möchte, kann sich per E-Mail melden. Richtet sich dieser Appell eigentlich nur an Münchner oder an jedermann?
Der Aufruf richtet sich an die Bewohner Münchens, weil wir Menschen suchen, die einen Bezug zu dieser Stadt haben. Sie wählen den Ort, wo sie nach dem Tod sichtbar sein wollen, selbst aus.
Wie groß ist bislang die Resonanz auf Ihre Einladung?
Stand heute haben 24 Personen zu uns gefunden und sich einscannen lassen. Abhängig vom Budget rechnen wir mit circa 50 Beteiligten. Rein technisch könnte die gesamte Stadt mit Personen "zugestellt" werden.
Gab es auch kritische Reaktionen? Wurde beispielsweise beanstandet, das Projekt sei pietätlos oder verletze die Privatsphäre, weil das Sterben öffentlich gemacht wird?
Durchgehend war die Reaktion der Personen, die mitmachen, von Dankbarkeit für die Zeit und Aufmerksamkeit geprägt, die wir ihnen geben konnten. Ich hatte beeindruckende Begegnungen mit starken Persönlichkeiten, die nicht nur ein großes Mitteilungsbedürfnis besaßen, sondern auch Wichtiges zu sagen hatten.
Welcher Art ist dieses Mitteilungsbedürfnis? Was beschäftigt die Menschen, die an Ihrer "Ars Moriendi" mitwirken möchten?
Die Personen, die sich bei uns melden, haben sich bereits intensiv mit dem Sterben und Tod auseinandergesetzt. Durch die Bank waren sie sehr neugierig. Es sind Menschen, die trotz ihrer Erkrankungen oder ihres Alters ganz bewusst leben und ihr Leben selbstbestimmt führen. Sie befürworten das Vorhaben als sinnstiftend. Es ist hingegen viel schwieriger, Menschen zu finden, die nichts von dem Aufruf erfahren oder nicht so aktiv sind. Menschen, die Krankheit und Alter in Einsamkeit erleben, sind schwerer zu erreichen, zum Beispiel obdachlose Menschen und Randgruppen. Aber mein Angebot ist nicht nur für das typische Theaterpublikum gedacht.
Um das Totengedächtnis zu Lebzeiten zu konservieren, lassen Sie von den Teilnehmern dreidimensional wirkende Scans anfertigen. Können Sie bitte erläutern, wie dieser Prozess vonstattengeht?
Ein System mit 120 Kameras macht im Bruchteil einer Sekunde Fotos von den Kandidaten und Kandidatinnen. Anschließend werden diese Fotos am Computer zu einem hochaufgelösten digitalen Bild der Person zusammengesetzt. Ihre Kleidung und Körperhaltung bestimmen die Beteiligten selbst. Diese digitalen Abbilder werden als dreidimensional wirkende Skulpturen für mehrere Jahre im öffentlichen Raum Münchens platziert – und zwar an einem Ort, der den Beteiligten besonders wichtig ist, der eine zentrale Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Zusätzlich setze ich mich mit den Kandidaten zusammen und führe ein Gespräch über den von ihnen ausgewählten Ort, das Sterben und den Tod. Ein kurzer O-Ton wird später neben der digitalen Skulptur abgespielt. Über die Lautsprecher kann man sich persönliche Nachrichten anhören.
Und wie gelangen die digitalen Abbilder in den öffentlichen Raum Münchens?
Für unser Vorhaben wird eigens eine App programmiert. Diese ist ab dem 19. Oktober kostenlos von der Website der Kammerspiele für alle downloadbar. Auf Smartphones oder Tablets sind dann die digitalen Abbilder im öffentlichen Stadtraum sichtbar.
Was genau kann ich mit der App machen?
Mithilfe einer Karte kann ich jene Orte finden, wo die Personen digital platziert sind. Es entsteht ein Parcours rund um die Kammerspiele im Zentrum von München. Die Bilder der Kranken und Sterbenden machen sie in ihrem Alltag sichtbar – und sie bekommen auch eine Stimme.
Welche Botschaften enthalten die Audioaufnahmen, die das virtuelle Bild ergänzen?
Die Personen beschreiben kurz, weshalb sie den jeweiligen Ort ausgewählt haben. Eine 92-jährige Dame erzählt ihre berührende Liebesgeschichte und wie wichtig ihr neuestes iPhone ist, um noch etwas von der Welt mitzubekommen. Viele schildern ihre Traumata, Krankheiten oder Kriegsgeschichten. Ich war jedoch überrascht, mit wie viel Lebensbejahung und Dankbarkeit sie dennoch rückblickend auf ihr Leben schauen. Viele berichten über die Kostbarkeit des Augenblicks und den Wert des Lebens. In den Nachrichten stecken mutmachende Botschaften über das, was im Leben wirklich zählt. Wir können viel von Sterbenden lernen. Das Sterben macht uns alle gleich.
Ihre Arbeitsweise war bisher die Annäherung an reale Räume. Was hat das digitale Abbild mit dem tatsächlichen Sterben oder dem Tod zu tun?
Ich habe in der Vergangenheit immer mit dem Digitalen experimentiert, wenn ich mich realen Dingen nicht annähern konnte. Ein Beispiel: Weil ich den schwarzen Kubus in Berlin nicht realisieren konnte, habe ich ihn digital umgesetzt. Das Digitale wird jetzt der Grenzraum, vergleichbar mit Totenmasken, die nicht nur verhüllen. Die sprechenden, dreidimensionalen, digitalen Doppelgänger stellen in Form einer Verdopplung die Absolutheit der Sprachgrenze zum Tod infrage. Es sind digitale Figuren zwischen Lebenden und Untoten, die den Raum zwischen Leben und Tod erweitern.
Von Woody Allen, der zumindest in seinen Filmen regelmäßig in Panik gerät, gibt es den Kalauer: "Ich habe keine Angst, zu sterben. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn's passiert." Wie ist das bei Ihnen? Welches Verhältnis haben Sie zum Tod?
Der Tod ist meine unverfügbare Erfahrung. Ich kann mir meinen Tod nicht vorstellen oder ihn fühlen. Diese Unvorstellbarkeit hat mich von jeher angezogen. Es ist wie eine Black Box. Der Tod ist auch ein Tabu, weil uns das Narrativ fehlt. Wir reden über Bilder und Metaphern an dieser Leerstelle, die wir kulturell seit Jahrtausenden entwickelt haben. In dieser Überlebenstechnik steckt die Dialektik, etwas beschreiben zu wollen, was nicht beschrieben werden kann. Auch "Ars Moriendi" mit den Kammerspielen kann letztlich als ein Widerspruch interpretiert werden, dem Tod als unwiderruflichem Zustand mit der Flucht ins Digitale zu entkommen. Ich habe einmal gesagt, meine Kunst ist der Tod. Damit meinte ich die nicht mehr sinnlich wahrnehmbaren Räume. Sie sind da, aber nicht erkennbar. Nur noch eine Ahnung bleibt. In dem sogenannten "Haus u r" in Rheydt existieren diese Räume, die ich nicht mehr beschreiben kann. Der Tod ist immer da und umgibt uns vollständig, obwohl wir ihm keine Gestalt zuordnen können.
Sind Sie schon einmal mit dem Sterben konfrontiert worden – beispielsweise in der Familie oder im Freundeskreis?
Ja, ich habe meinen Vater sterben sehen. Er konnte loslassen und hat es geschafft zu sterben, und das fand ich nicht schrecklich. Ich habe meinen Vater in den Tod umarmt.
Fürchten Sie sich vor dem Moment, in dem für Sie der Vorhang fällt? Oder sehen Sie dem gelassen entgegen?
Der Tod ist das treibende Lebensdrama, auch in der Kunst. Wir sterben heute länger. Wir sind länger krank. Wenn ich länger leben sollte, stellen sich auch mir neue Gestaltungsfragen. Die Kunst schafft einen Abstand und einen anderen Blick auf den Tod und das Sterben. Ich will natürlich aus dem Leben vor dem Tod auch etwas Gutes machen, ohne dabei den Tod zu heroisieren. Es hat auch etwas Befreiendes, dass das Leben irgendwann zu Ende ist. Aktuell mache ich mir eher um das Leben anderer Sorgen, nicht um mein eigenes. "Ars Moriendi" heißt, das Sterben auch als einen Gestaltungsspielraum anzunehmen. Es herrscht eine gewisse Ratlosigkeit, gepaart mit dem gleichzeitigen Gestaltungswunsch. Menschen entwickeln immer stärker die Phantasie, nicht länger sterben zu müssen. Wir wollen dem Tod eine Gestalt geben. Wir wollen es abrunden. Wir wollen das Leben mit einem Kunstwerk abschließen – das hat etwas Verführerisches, aber auch Problematisches.