Florentina Holzinger über "Sancta"-Skandalisierung

"Eine sehr klassische Verteufelung von weiblicher Sexualität"

Eine blutige Bühnen-Orgie, die das Publikum in Ohnmacht fallen lässt? Nach der Skandalisierung ihrer "Sancta"-Opernperformance wird die Choreografin Florentina Holzinger angefeindet. Wir haben mit ihr gesprochen

So viele Schlagzeilen hat eine Opernaufführung selten gemacht. In der vergangenen Woche war bis in internationale Medien (auch bei Monopol) zu lesen, dass am Premierenwochenende von Florentina Holzingers Inszenierung "Sancta" in der Staatsoper Stuttgart bei zahlreichen Besuchern Erste Hilfe geleistet werden musste. Drastischen Darstellungen und echtes Blut auf der Bühne seien zu viel gewesen. "Sex-Szenen schocken Opern-Publikum", schrieb die "Bild"-Zeitung, die "FAZ" titelte: "In der Oper gewesen, gekotzt".

Bei Holzingers Opernperformance, die in Schwerin Premiere feierte, verbindet die österreichische Choreografin und Künstlerin Paul Hindemiths Operneinakter "Sancta Susanna" und Elemente der katholischen Liturgie "zu einer radikalen Vision der heiligen Messe", wie es in der Ankündigung heißt. Das Stück ist ab 18 und kommt mit einer ziemlich langen Trigger-Warnung. Wie bei vielen der feministischen Holzinger-Werke geht es auf der Bühne nicht zimperlich zu - inklusive sexueller Handlungen, Nacktheit, Selbstverletzung und anderen Darstellungen und Beschreibungen von Gewalt. Ließ das das Stuttgarter Publikum reihenweise in Ohnmacht fallen?

Wie die "Zeit" recherchiert hat, haben sich nach Angaben des Opernhauses von den 2800 Gästen an zwei Vorstellungstagen 18 wegen Unwohlsein gemeldet und den Saal verlassen. Dreimal wurde ein Arzt hinzugezogen. Das hört sich schon nicht mehr ganz so dramatisch an. Warum also die ganze Aufregung? Wir haben Florentina Holzinger selbst gefragt. 

 

Florentina Holzinger, glaubte man den Schlagzeilen der vergangenen Woche, sind bei Ihrer "Sex-Oper" in Stuttgart dutzende Menschen vor Schreck umgekippt. Wie würden Sie in Ihren Worten beschreiben, was passiert ist?  

Für unser Gefühl ist beim Publikum nicht viel Anderes passiert, als das schon seit zehn Jahren in meiner Karriere immer wieder der Fall ist. Der größte Skandal, den es an dieser Sache gibt, ist wirklich dieser Medienrummel und die Reaktionen darauf.  

Zu lesen war von 18 Personen an zwei Abenden der Show, die sich wegen Unwohlsein beim Personal meldeten, dazu gab es drei Notarzteinsätze. Das ist für Sie nicht ungewöhnlich? 

Die Show hatte ja schon vor einem halben Jahr Premiere und wurde in Schwerin und in Wien aufgeführt. Da gab es wesentlich weniger vergleichbare Reaktionen, das ist richtig. Aber Stuttgart ist auch ein extrem großes Opernhaus, das führt dazu, dass auch mehr Leute den Saal verlassen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass das Publikum an den beiden anderen Orten sich mehr mit der Tanztheater- und Performance-Szene überschnitten hat. In Stuttgart hatten wir ein klassischeres Opernpublikum, das mit experimentellem Theater vielleicht nicht so viel Erfahrung hat. Und damit meine ich auch den Gebrauch von Stroboskopen, Lautstärke und Nebel.

Handelt es sich also um eine Art Missverständnis mit dem Publikum? 

Das Interessante an meiner Arbeit ist ja, dass sie an der Schnittstelle zwischen Theater, Performance und Tanz angelegt ist – und jetzt eben auch Oper. Für uns ist ganz klar, dass wir nicht nur mit der Illusion von Dingen spielen – besonders wenn wir uns mit Themen wie dem Körper der Frau und der Kirche beschäftigen. Vieles davon wird real verhandelt; Blut zum Beispiel ist ein ganz wichtiges Ausdrucksmittel in meinem Werk. Wenn man sich sonst Opernaufführungen anschaut, in denen Gewalt nur symbolisch verhandelt wird, reagiert man auf meine Arbeit vielleicht heftiger. Hinzu kommt ein relativ hoher Altersdurchschnitt beim klassischen Opernpublikum. Es liegt sicher nicht nur daran – wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Leute den Anblick von echtem Blut nicht gut vertragen –, aber normalerweise passiert das in einem sehr kontrollierten Umfeld. Um die Leute wird sich sofort gekümmert, und viele kommen noch am selben Abend zurück in die Show, weil sie nichts verpassen wollen. 

Bei Ihren Performances im Kunst-Kontext macht das Publikum einen eher hard boiled Eindruck; es erscheint schwer, überhaupt eine Reaktion zu bekommen … 

Vielleicht ist das Publikum es dort eher gewohnt, dass es komplexe Arten von Darstellungen gibt. Für mich ist es skurril, dass es im Opernrepertoire seit Jahrhunderten unzählige Darstellungen von Krieg, Vergewaltigungen oder Gewalt, speziell gegen Frauen, gibt. Daran scheint der Opernbesucher so gewöhnt, dass es ihm gar nicht mehr auffällt. Und bei uns kommen nackte Frauen und nicht-binäre Menschen auf die Bühne und machen in einem extrem kontrollierten Rahmen Dinge, die zwar brutal wirken können, aber in einem klaren kunsthistorischen Kontext stehen. Die Art und Weise, wie wir Blut verwenden oder uns Wunden zufügen, zeugt von einem selbstbestimmten Umgang mit dem Körper, die Gewalt richtet sich nie gegen andere. Ganz persönlich schockieren mich die Gewaltdarstellungen in etabliertem Opernstoff viel mehr. Ich will dem Publikum sozusagen einen Spiegel vorhalten, welche Gewalt es als normal empfindet. 

Über die religiösen Anspielungen in "Sancta" – zum Beispiel einen nackten weiblichen Jesus – hat sich nun pflichtschuldig auch die katholische Kirche wegen "obszöner Verletzung von Gefühlen" beschwert. Mal andersherum gefragt: Wäre es nicht enttäuschend, wenn ein so drastisch inszenierter Stoff keinen Protest hervorruft? 

Ich habe diese Reaktion schon als schockierend empfunden, weil ich sonst – auch von Katholiken – die Rückmeldung bekommen habe, dass unser Umgang mit Religion sehr respektvoll ist. Und das große Symbol des Trostes im Christentum ist nun mal ein Mensch im Moment höchster Qual, aufgeopfert am Kreuz. In jeder Kirche ist das mit sehr viel Blut dargestellt. Ein "guter Christ" sollte doch in der Lage zur Selbstkritik sein, weil in der Kirche extrem viel Reformbedarf besteht und so viele Dinge unter den Teppich gekehrt werden. Ich denke aber auch, dass unsere Show als "Christen-Bashing" medial extrem hochgeschaukelt wurde. Ich glaube, Christen können mit dem Stück eigentlich viel anfangen.  

Der Vorwurf der Blasphemie und ein veritabler Empörungssturm hat im Sommer auch die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris mit ihrem vermeintlich "queeren Abendmahl" getroffen. Warum triggert das Thema immer noch derart, obwohl Religion im Alltag immer weniger eine Rolle spielt? 

Ich finde es grundsätzlich ein gutes Zeichen, wenn man sich kritisch gegenüber dem Patriarchat zeigt und das Patriarchat sich dazu äußert und Angst bekommt. Was wir an der Kirche anprangern, ist ja vor allem das extrem patriarchale System, und die meisten der Anfeindungen kommen schon von Männern. Wenn sich das Patriarchat bedroht fühlt, hat es keinen anderen Reflex, als die emanzipierte Frau als Hexe darzustellen.  

Sie haben auf Instagram von Anfeindungen gegen Sie gesprochen. Wie äußern die sich? 

Mein Instagram ist voll von Inquisitionsrhetorik. "Sie sind der Teufel""Häretikerin", "Sie bringen den Teufel auf die Bühne". Natürlich "Satanistin". Lustigerweise spiegelt sich hier genau das 103 Jahre alte Libretto unserer Oper wider. Der Charakter der Susanna wird in dem Moment in den Augen der anderen zur "Satana", in dem sie sich sexuell selbstbestimmt. Hier geht es also um eine sehr klassische Verteufelung von weiblicher Sexualität. Wie tief solche Denkweisen in unserem kulturellen Bewusstsein verankert sind, sehen wir jetzt, wo sich genau dieses Narrativ zu wiederholen scheint. Das ist für mich das Gewaltsame am Erleben dieser ganzen Geschichte, dass ich all diese extrem aggressiven Kommentare bekomme. Da gibt es Menschen, die von "nackten Frauen auf der Bühne" lesen und sonst keine Ahnung von der Show haben. Die schreiben mir: "Offenbar willst du vergewaltigt werden." Das sind ganz alte, schädliche Tropen, die hier auftauchen. Genau so etwas versuche ich in meinen Shows entgegenzutreten, deswegen provoziert mich das. Es ist, als ob sich hier eine toxische Männlichkeit zeigt, die es nicht erträgt, wenn Frauen die Kontrolle über ihre Körper übernehmen - und dann fallen solche Männer in Ohnmacht. 

Was, glauben Sie, ist so unwiderstehlich an der "Sancta"-Geschichte, dass sie weltweit Schlagzeilen gemacht hat? 

Nackte Frauenkörper und Kirche sind einfach ein absoluter Clickbait. Zum Teil wurde von "lesbischer Sex-Oper" gesprochen, was einfach skurril ist. Aber das ist die Netflix-Faszination. 

Andererseits ist es natürlich auch eine Präsenz Ihres Stücks, die Sie mit klassischer Feuilleton-Berichterstattung nie erreicht hätten. Hätten Sie denn im Gegenzug auf die PR verzichtet? 

Wenn ich die Aggressions-Tiraden erlebe, die uns gerade treffen, hätte ich lieber darauf verzichtet. Die Shows, die jetzt ausverkauft sind, waren es vorher eigentlich auch schon. Wir haben auch viele Unterstützer, die sich zu Wort melden, aber ich frage mich als Künstlerin angesichts dieser extremen Skandalisierung schon: Nütze ich der Causa mehr oder schade ich ihr? Das Letzte, was ich will, ist, meinen Cast in Gefahr zu bringen. Meine Arbeit ist schon so gemeint, dass sie auch aneckt, aber das findet normalerweise im geschützten Raum des Theaters statt.  

Ihr Stück "Sancta" hat eine ziemlich lange Trigger-Warnung. Diese weist auf "explizite sexuelle Handlungen sowie Darstellungen und Beschreibungen von (sexueller) Gewalt, echtes Blut sowie Kunstblut, Piercingvorgänge und das Zufügen einer Wunde" hin. Wie finden Sie das? 

Unsere Shows bieten zum Glück noch viel mehr als das, was auf diesen Listen steht. Aber ich bin eine Freundin der Trigger-Warnung. So können Menschen viel besser entscheiden, ob sie etwas sehen und sich zumuten wollen. Im Internet gibt es dagegen kein Einvernehmen mehr über irgendwas, und keine gemeinsame Ebene, auf der man diskutieren kann.  

Leiten Sie aus der Erfahrung etwas über unsere Gegenwart ab, oder mussten sich Künstlerinnen und Künstler schon immer auf verschiedene Art der gesellschaftlichen Empörung stellen? 

Ich glaube, heute ist man durch Social Media und die digitale Vernetzung wesentlich flächendeckender angreifbar. Projektionen und Vorurteile florieren hier, niemand muss persönlich hinter Kommentaren stehen und Verantwortung übernehmen, Meinungen gedeihen "wie am Komposthaufen". Sie sind Produkte der idealen Kombination aus Vorurteilen und Feigheit, weil ja niemand direkt kommunizieren muss. Ich finde auch die Position der Medien schwierig, weil viele voneinander abschreiben und immer weiter skandalisieren. Und ich bin überzeugt, dass die Art der Gewaltandrohung damit zu tun hat, dass ich eine Frau bin. Ich wüsste nicht, dass Hermann Nitsch, der sich auch der katholischen Ikonografie in drastischer Weise bedient hat, Vergewaltigungsandrohungen bekommen hätte.  

Haben Sie schon etwas aus den vergangenen Tagen gelernt? 

Ich merke schon, wie wichtig es ist, meine Arbeit weiterzumachen, weil sie offenbar gebraucht wird und es noch immer so viele unverarbeitete feministische Themen gibt. Ich höre immer wieder, dass Gleichberechtigung längst da ist. Jetzt wird man mit der Realität konfrontiert, und die ist eine komplett andere und leider ziemlich misogyn. Auch gab es in unserem Team viel wertvollen Austausch, der sonst vielleicht nicht passiert wäre. Ich will mich auf keinen Fall zensieren lassen, aber ich finde es traurig, dass wir jetzt Sicherheitsvorkehrungen für die Show brauchen, um Schutz vor dem Publikum zu haben. Das ist eine absurde Umkehrung. Für mich ist "Sancta" ein sehr besonderes Stück, weil es auch einfach schön ist und zentrale Themen wie Freiheit, Liebe und Gemeinschaft behandelt. Das passt überhaupt nicht zur medialen Darstellung. Deshalb hoffe ich, dass möglichst viele Leute die Aufführungen sehen können und sich selbst ein Bild machen.