Viele Geschichten beginnen mit einem Gin: ein spontaner Roadtrip ans Meer, ein nächtlicher Anruf, der alles verändert (oder viel eher: den man dann doch bereut, weil das mit nächtlichen Anrufen leider meistens so ist). Oder die Entdeckung eines Freundschaftstattoos mit der Bar-Bekanntschaft der letzten Nacht, der man für ein paar süße Stunden etwas von "Seelenverwandtschaft" ins Ohr gesäuselt hatte und an deren Namen man sich beim Aufwachen nicht einmal mehr erinnert. In den wenigsten Fällen ist ein Schnaps aber der Startschuss für eine Karriere in der Kunst. Oder?
Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel: Für Sabela García Cuesta war ein (antialkoholisches) Gin-Label tatsächlich der Einstieg in die Kunstwelt. Die 1989 in Spanien geborene Künstlerin lebt seit mittlerweile zwölf Jahren in Deutschland, die letzten fünf davon verbrachte sie in einer Community-Wohngemeinschaft im Hamburger Schanzenviertel.
"Es ist ein sehr verrückter Ort, weil wir ungefähr ein Dutzend kreative Leute sind", sagt sie. "Ich werde bald ausziehen, weil die Community zwar wunderschön ist, aber man dann doch irgendwann bereit ist, sich weiterzuentwickeln. Ich sehne mich nach einem eigenen Raum. Aber für die vergangenen fünf Jahre war es der wunderbarste Ort zum Wachsen; so viele Unternehmen und Kooperationen sind hier entstanden."
"Manchmal fand ich mich weinend auf der Toilette wieder"
Auch sie selbst war früher in der Start-up-Industrie tätig, beriet und betreute junge Unternehmen. Der Blog "Hamburg Startups" bezeichnete García Cuesta im Jahr 2020 als "eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Hamburger Startup-Szene". Aber wirklich glücklich machte sie das Ganze nicht.
"Es war einfach zu viel", erzählt sie. "Manchmal fand ich mich weinend auf der Toilette wieder, weil ich mit all den Dingen, die sie von mir verlangten, einfach nicht klarkam. Dann habe ich nach einer Reise nach Kalifornien angefangen, CBD-Produkte auszuprobieren. Ich war fasziniert davon und dachte mir, dass ich die Produkte nach Deutschland bringen könnte."
Während der Corona-Pandemie brachte sie dann tatsächlich ihr eigenes CBD-Öl auf den Markt – unter dem Namen "Art District". "Im Nachhinein betrachtet war der Einstieg ins CBD-Business eine Art Trainingsprojekt", sagt sie heute. "Aber ich war nicht bereit dafür. Und während dieser Zeit, in der das Business nicht gut lief, fing ich an, mehr zu malen, um mich zu entspannen. Ich habe mich eigentlich nie aktiv dazu entschieden, Künstlerin zu werden – es ist einfach passiert."
Und dann kam eines Tages die Anfrage für ein Projekt. Das antialkoholische Gin-Label Laori fragte García Cuesta nach zehn unterschiedlichen Bildern zum Thema Brustkrebs-Awareness. Im Google-Suchfeld gab die Künstlerin das Schlagwort "Brüste" ein – "ein großer Fehler", wie sie jetzt lachend feststellt. "Ich bin ständig auf Porno-Material gestoßen. Und ich dachte: Nein, ich brauche echte Brüste."
"Kraftvoll, wenn ich die Frauen tatsächlich vor mir habe"
Also startete sie einen Aufruf auf Instagram und in weniger als einer Woche hatte sie zehn Frauen zusammen, die ihr Fotos ihrer Brüste zuschickten. "Aber die Anfragen hörten nicht auf", sagt García Cuesta. "Ursprünglich wollte ich ja wirklich nur Fotos haben, um meine Gemälde anzufertigen. Aber dann wurde mir bewusst, wie kraftvoll es ist, wenn ich die Frauen tatsächlich vor mir habe."
In der Regel dauern ihre Sitzungen anderthalb Stunden; mittlerweile hat García Cuesta rund 200 Brüste auf die Leinwand gebracht. Mit jeder individuellen Geschichte reflektiere sie auch sich selbst und ihr eigenes Leben: "Oft dachte ich: Wow, okay, ich bin nicht allein. Es hat mir sehr geholfen, um meine Traumata zu überwinden. Es ist in erster Linie therapeutisch für mich selbst, aber auch für die Frauen, weil sie Erleichterung finden, sich nicht allein fühlen. Und von mir gesehen werden."
Schon als Kind besuchte García Cuesta nach der Schule Kunstkurse. "Ich hatte immer das Bedürfnis, Kunst zu machen und ich habe die Verbindung dazu nie verloren", sagt sie. "Kunst war für mich immer sehr intuitiv; ich suchte nie wirklich nach Techniken, ich wollte Dinge nicht der Schönheit wegen machen. Es ist vielmehr ein Weg, um mich zu befreien. Ich benutze Kunst als Werkzeug." Mittlerweile weitet die Künstlerin den therapeutischen Effekt ihrer Malpraxis auch auf Workshops aus, in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst zu Pinsel und Farbe greifen.
Oft verbringt García Cuesta mehrere Wochen an einem bestimmten Ort, trifft dort Frauen und stellt die entstandenen Brust-Gemälde nach etwa einer Woche aus. Diese Art von Ausstellungsprojekten, die sich auf einen Ort und einen Zeitrahmen beziehen, führte sie schon in Berlin durch, aber auch in Los Angeles und Tel Aviv. "Es gibt dieses Momentum, wenn die Frauen im Kontext der finalen Ausstellung aufeinandertreffen", sagt die Künstlerin. "Es ist sehr verbindend und das ist etwas, das ich lebe und liebe. Deshalb empfinde ich es wirklich als heilend – ich fühle diese Kraft und die Sanftheit, wenn ich von Frauen umgeben bin und sie mir nah sind."
Wenn sie diese Ausstellungsprojekte veranstaltet, sieht García Cuesta sich vor allem als Geschichtenerzählerin. "Letztendlich bin ich ja in der Ausstellung die Einzige, die alle Geschichten kennt", erklärt sie. "Wenn ich deine Brüste male und du nackt vor mir stehst, wenn du mir deine intimsten Gedanken anvertraust – über deinen Körper, deine Brüste, deine Ex-Freunde –, dann ist da so eine Verbindung. Weil du dich öffnest und verwundbar bist." Und vielleicht kann man den Anfangssatz dann einfach doch so stehen lassen: Viele Geschichten beginnen mit einem Gin.