"Ich trage heute Wedges", sagt Mark Bryan. Glaube ich ihm einfach mal, auch wenn der Zoom-Bildschirm zu klein ist, als dass man einen Blick auf seine Schuhe erhaschen könnte. Dafür ist der Rest des Outfits gut erkennbar: schwarzes, enganliegendes T-Shirt mit Thierry-Mugler-Schriftzug, dazu ein schwarzer Lederrock, der knapp über dem Knie endet. Ein bisschen erinnert mich der 63-Jährige mit seinem kahl geschorenen Kopf und dem All-Black-Leder-Look an die Gestalten, die man am Wochenende zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Schlange vor dem Berghain antrifft.
Aber an diesem Samstagabend geht’s für Mark Bryan nicht in die heiligen Hallen des Berliner Techno-Tempels, für mich auch nicht. Wir haben uns zu einem Zoom-Meeting verabredet, um für die Monopol-Rubrik "Insta-Watchlist" über seinen Werdegang zur Fashion-Ikone zu sprechen. Dabei ist der Account des in Dallas aufgewachsenen US-Amerikaners schon lange kein Geheimtipp mehr: Vor vier Jahren tauchte Mark Bryan wie aus dem Nichts als Instagram-Modesensation auf, mittlerweile verzeichnet sein Profil über eine halbe Million Followerinnen und Follower – Tendenz steigend.
Zu ihnen zählen auch die ehemalige Vogue-Chefredakteurin Carine Roitfeld und die Modedesignerin Lotta Volkova. "Ich habe Mark Bryan im Internet entdeckt und mich sofort in ihn verliebt", sagt Roitfeld 2021 gegenüber der tschechoslowakischen "Vogue". Und meint damit: Verliebt in seinen Stil, den er selbst als "Hybrid-Style" bezeichnet und der ihm Interviews und Fotoshootings mit Fashion-Magazinen weltweit beschert hat, von "Vogue" bis "Harper’s Bazaar". In wie vielen Magazinen er war, weiß er nicht mehr, wohl "um die 35". Dafür kennt er die Anzahl der Cover, die er zierte, genau: "Fünf."
In den Outfits von Mark Bryan treffen Männerhemden auf glitzernde Bleistiftröcke, Krawatten auf rote Pumps, Sakkos auf rüschige Rockkreationen. "Ich habe die Frauenbekleidung einfach unterhalb der Taille integriert", sagt Mark Bryan. Die Looks, die er auf Instagram postet, erinnern an einen optischen Hybrid zwischen Büroalltag und High-Fashion.
Man hätte ihn und seinen Stil in eine der großen Metropolen verortet – Paris, London, New York. Oder eben, apropos Berghain, Berlin. Tatsächlich aber lebt der gebürtige Texaner seit 2010 mit seiner Ehefrau und seinen Kindern in der süddeutschen Provinz, in einer Kleinstadt irgendwo zwischen Stuttgart und Nürnberg. Hier arbeite er als Roboter-Ingenieur, sagt Mark Bryan. "Wobei ich im Grunde ja drei Jobs habe: Ingenieur, Model und Football-Trainer."
Mit dem Coaching habe er angefangen, als er nach Deutschland gezogen sei. Unser Meeting hat er kurzfristig um eine halbe Stunde nach hinten verlegt, weil noch eine Besprechung mit der Frauen-Footballmannschaft anstand, die er aktuell trainiert. "Am meisten habe ich immer das Coachen von jungen Spielerinnen und Spielern genossen", sagt er. "Weil man sie nicht nur im Football coacht, sondern ihnen auch etwas über Teamwork, Verantwortung und Verbindlichkeit beibringt."
Dass Mark Bryan Röcke und High-Heels trägt, ist so gesehen nichts Neues. Crossdresserinnen und -dresser brachen schon vor über 100 Jahren mit den typischen Geschlechterrollen, wie zuletzt Schauen wie "Queerness in Photography" im C/O Berlin und "Like a Whirlwind – Die Genderplays von Marie Høeg & Bolette Berg" im Berliner Ausstellungshaus F3 zeigten. Aber dass sich ein "straighter Cis-Mann", wie sich Mark Bryan selbst in seiner Instagram-Bio bezeichnet, diese Uniform zu eigen macht, und sie tagtäglich in der süddeutschen Provinz trägt, wenn er mit dem Regionalexpress zur Arbeit fährt, ist dann eben doch etwas Besonderes.
Viele seiner ersten Postings zeigen diese alltägliche Szenerien: Mark Bryan auf dem Bahnsteig eines Pendler-Bahnhofs, in einer Tiefgarage, beim Einkaufen zwischen Getränkekisten. Immer in Bleistiftrock und High-Heels. "Im Grunde habe ich mit dem Posten angefangen, um meine Outfits zu dokumentieren", sagt er. "Ich wollte einfach zeigen, was ich täglich ins Büro trage und mich dabei nicht wiederholen, nicht zweimal dasselbe tragen. Und innerhalb eines Jahres stieg die Anzahl der Followerinnen und Follower auf 300.000 an. Das ging wirklich durch die Decke."
Insgesamt besitze er mittlerweile wahrscheinlich um die 200 Paar High-Heels, davon rund 20 Louboutin-Modelle. Die Luxusmarke mit den typisch roten Sohlen gehöre neben Jimmy Choo zu seinen Lieblingsbrands. "Ich habe einige Schuhe, die ich den ganzen Tag tragen kann, sogar einige High-Heels mit 10-Zentimeter-Absätzen", sagt Mark Bryan. "Aber es gibt Louboutins, die ich sofort ausziehe, sobald ich am Schreibtisch sitze. Mein anspruchsvollstes Paar ist 13 Zentimeter hoch, die 'So Kate'-Louboutins 130. In denen kann ich gerade so in stehen. Das geht für ein Shooting, aber laufen ist unmöglich. Ich glaube, bei elf Zentimetern ist mein Limit erreicht."
Ursprünglich komme er aus einer Arbeitsumgebung, in der man fast täglich Anzug und Krawatte tragen musste. "Vor allem vor 20 oder 30 Jahren war das in meinem Beruf fast obligatorisch", sagt Mark Bryan. "Irgendwann war ich einfach gelangweilt von der Männermode. Wir hatten die Wahl zwischen einem schwarzen Anzug, einem braunen Anzug oder einem blauen Anzug. Das war’s."
Eine Fashion-Ikone zu werden oder als Model zu arbeiten, danach habe er nie gestrebt. Trotzdem sei sein Look ein Statement. "Wird es von der Gesellschaft akzeptiert? Naja, nicht wirklich. Aber ich bin alt genug geworden, um zu realisieren, dass es mir wirklich komplett egal ist, was andere denken. Und ich denke, ich helfe vielen Menschen damit – besonders den Männern, die Kleidung als Ausdrucksmittel nutzen möchten, aber Angst davor haben, als schwul abgestempelt zu werden. Umso mehr Menschen in geschlechtsunkonformer Kleidung auf die Straße gehen, umso alltäglicher wird es. Das würde es für alle leichter machen."
Gleichzeitig sei er natürlich nicht der erste Mann im Internet, der Röcke und High Heels trage. "Aber ich bin einer der wenigen heterosexuellen Männer", sagt er. "Ich lasse es nicht zu, dass meine Outfits meine sexuelle Orientierung bestimmen. Und ich lasse sie nicht beeinflussen, wer ich bin. Ob ich Hosen oder Röcke trage – das ändert nichts an mir. Vielleicht gehe ich ein wenig anders, oder ich tendiere eher dazu, meine Beine übereinander zu schlagen. Aber abgesehen davon bin ich derselbe Mensch. Es beeinflusst nicht meine Arbeit im Büro. Es beeinflusst nicht mein Coaching. Es beeinflusst rein gar nichts. Ich bin immer noch derselbe Vater. Ich bin immer noch derselbe Ehepartner. Ich bin immer noch derselbe Mann."
Am kommenden Wochenende sei er übrigens für ein Spiel seiner Frauen-Footballmannschaft in Berlin, meint Mark Bryan am Ende unseres Gespräch. Vielleicht wird das dann ja doch noch was mit dem Besuch im Berghain.