Im Sommer 1989 haben der Satiriker Wiglaf Droste und das Ärzte-Mitglied Bela B. einen Song mit dem Titel "Grönemeyer kann nicht tanzen" veröffentlicht, ein fieses Lied, das den erfolgreichen Sänger beschreibt und zugleich parodiert. "Herbert hackt Sätze, nuschelt, klingt lustig, auch irgendwie kaputt", heißt es da. Er würde "laut stammeln", "klingt leicht abgestochen, aber voll da." Der Song, vorgetragen in einem gepressten, gedengelten und eben genuschelten Herbert-Sprechgesang endet mit den Worten "Angst! Aus!"
Aus Westberliner Perspektive mutete die rührige Verkniffenheit des Ruhrpottmusikers offenbar wie ein Witz an, seine vor lauter Authentizität offensive Undeutbarkeit wirkte beängstigend.
30 Jahre später – Grönemeyer klingt mit 63 Jahren immer noch wie Grönemeyer – entbrennt über seine Stimme, seinen Tonfall und seinen Botschaften eine absurde "Debatte". Auslöser ist ein Videoschnipsel von einem Konzert vergangene Woche in Wien, darin appelliert Grönemeyer an sein Publikum – wobei sich seine Stimme auch mal überschlägt –, "keinen Millimeter nach rechts" zu rücken. Wenn Politiker schwächeln, "liegt es an uns, zu diktieren, wie 'ne Gesellschaft auszusehen hat. Und wer versucht, so 'ne Situation der Unsicherheit zu nutzen für rechtes Geschwafel, für Ausgrenzung, Rassismus und Hetze, der ist fehl am Platze (…)."
Dramaturg Bernd Stegemann, Unterstützer der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen", twitterte ganz erschrocken: "Der Tonfall, mit dem Grönemeyer sein Publikum politisch anheizt, macht mir ein wenig Angst. Ich sags ungern, aber er klingt wie ein Redner vor 1945." AfD-Politikerin Beatrix von Storch noch verängstigter: "Das ist die furchterregendste, übelste, totalitärste Hassrede, die ich je gehört habe." Twitter glühte am Wochenende, angefeuert von Trollarmeen. Außenminister Heiko Maas meldet sich zu Wort, Sophie Passmann, Yanis Varoufakis, Ruprecht Polenz, Dunja Hayali. Alles wegen Grönemeyer? Dem irgendwie kaputten, aber immer aufrichtigen Grönemeyer?
Ein unmöglicher Popstar
"Vergleichen Leute jetzt Grönemeyer mit Goebbels, nur weil er eine Rede in ähnlicher Lautstärke gehalten hat?", wundert sich auch der Komiker Shahak Shapira. "Mein Föhn ist ungefähr so laut wie eine Kettensäge und ich bekomme trotzdem unterschiedliche Ergebnisse, wenn ich sie mir an den Kopf halte."
Und genauso ist es mit Grönemeyer. Gibt es jemanden, der in seinem ganzen Habitus, seiner Musik ("Jaul, statt Soul", wie Droste und Bela B. spotteten), seiner Lyrik und gerade auch durch sein ehrenwertes politisches Engagement mehr Mitte darstellt als er? Eigentlich ein unmöglicher Popstar. Bands wie Laibach und Rammstein haben parodistisch herausgearbeitet, wie nah sich Pop und Faschismus kommen können. Grönemeyer ist das genaue Gegenteil davon. Keine einfach lesbare Codes, stattdessen gemütlicher Pulli, verschwobelte Lyrik, verwundeter Mann, "leicht abgestochen" – aber eben auch voll da.
Durchhalteparolen mit zusammengebissenen Zähnen
Herbert Grönemeyer singt über das Kaputte, das ja auch schon damals, in der heilen BRD-Welt der 80er-Jahre, gab, er singt mit zusammengebissenen Zähnen Durchhalteparolen, immer verklemmt und doch mit großer Sehnsucht danach, befreit und endlich locker und weniger kartoffelich zu werden.
In Westberlin waren Leute wie Wiglaf Droste und Bela B. eingemauert, aber frei, und jemand wie Grönemeyer eine unangenehme Erinnerung an die ewig unerlösten Spießer-Schwestern und Biedermeier-Brüder im fernen Westdeutschland. Wenn sich seine Stimme jetzt überschlägt, dann zucken alle zusammen, aber bestimmt nicht weil er wie Goebbels klingt, sondern die eigentlich beängstigende Vorstellung ist doch, dass es diese spießige Mitte, die er so perfekt verkörpert, vielleicht schon bald nicht mehr gibt.