Als tauche die Gestalt gerade aus der Ölfarbe auf, wie ein Fossil, das zur Oberfläche strebt, um sich bescheinen zu lassen von der langvermissten Sonne. So schön, so assoziationsreich kann Geometrie sein, die zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit schwebt. "Schmetterling" nennt Mark Grotjahn den Strahlenkranz, den er in Variationen seit Anfang des Jahrhunderts pastos auf hochformatige Leinwände aufträgt: umlaufende dreieckige Farbfelder, die sich tonal voneinander absetzen und zur Bildmitte hin spitz zulaufen. Schmetterlinge, Sinnbilder für Verwandlung. Das Strahlenspektrum, das sich von einem oder zwei Fluchtpunkten aus in Farbnuancen entfaltet – das sind die Flügel des ins Ultraschematische abstrahierten Schmetterlings. Eine senkrecht laufende Mittelachse, die auf den ersten Blick selbst wie ein Strahl aussieht – das ist sein Rumpf. Ohne diese Achse wären es Sonnen.
Auch auf Papier zeichnet der Künstler aus Los Angeles mit Farbstiften ähnliche Strukturen: In der Berliner Galerie Max Hetzler sind zum Gallery Weekend am Standort Potsdamer Straße großformatige "Butterfly Drawings" zu sehen, darunter die "Kitchen"-Reihe, die als eine Unterserie konzipiert ist und in Grotjahns eigener Küche hängen sollte. Diese eigentliche Bestimmung schlägt eine Brücke in die Vergangenheit: Der Kalifornier tauschte einst als junger Künstler in Imbissbuden Hinweisschilder gegen selbstgemalte Kopien aus, hängte die Originale in die Galerie, die Kunst konnte man bei Taco und Bier bewundern. Das Prinzip Readymade als Geben und Nehmen.
Auch der Strahlenkranz der hochformatigen "Butterfly Drawings" erinnert in seiner schnell erfassbaren Form an Schilder oder Poster, die – gekippt um 90 Grad – aufgehende Sonnen oder perspektivisch sich verjüngende Straßen symbolisieren. Man mag an die Flagge der japanischen Marine denken, an die aufgehende Sonne der Freien Deutschen Jugend, überhaupt an Propaganda. Nur dass die Horizontlinie bei Grotjahn als Rumpf des Falters das Bild vertikal durchzieht, die Strahlen und Straßen bilden die Flügel. "Ich mag diese Form, weil sie nichts verbirgt", sagte der heute 56-Jährige einmal im Monopol-Gespräch. "Es gibt keine Tricks, die dahinter sind. Ich male Triangel an Triangel, einmal die Runde rum."
"Ich sehe mich nicht als Modernen"
Als Schmetterlinge, Straßen Sonnen sind diese exakten Explosionen indes nur in Klammern zu denken. "Anfangs habe ich in meinen Versuchen keine Straße, keine Sonne gesehen, sondern nur gegenstandslose Formen, mit denen ich rumprobieren wollte, wie weit ich damit komme." Ende der 1990er-Jahre zog Grotjahn nach Los Angeles, und nachdem er mit Performances und konzeptuellen Arbeiten seine Laufbahn begonnen hatte, malte oder zeichnete er Horizonte und ließ auf Perspektivpunkte von oben und unten sich verjüngende Dreiecke zulaufen. "Klar, das hat auch mit LA zu tun, das Autofahren, die Straßenfluchten", meint er.
Mark Grotjahns Zeichnungen heißen "Untitled (Grass Green and Cerulean Blue Butterfly 55.61)", "Untitled (Mineral Orange and Blush Pink Butterfly 52.43)" oder ähnlich. Natürlich klingen in solchen Grobrasterungen von Welterfahrung auch modernistische Form- und Farbexperimente an, der Weg Piet Mondrians etwa vom Baum zum "Wesen des Baumes", vom Abbild zum dekontextualisierten Bild, und – in der Nachfolge der frühen Modernen – die US-amerikanische Farbfeldmalerei, Kenneth Noland, Morris Louis oder Frank Stella. Gleichzeitig nimmt er von der Minimal Art den Rhythmus des Seriellen auf, die Faszination von Wiederholung und Variation. "Ich sehe mich nicht als Modernen, ich habe keine großartige Philosophie wie die frühen Modernen. Ich glaube auch nicht an eine universelle Sprache der Abstraktion, aber ich glaube, dass Abstraktion eine Sprache ist, eine junge Sprache, mit der man noch viele Entdeckungen machen kann", so der Maler.
Grotjahn erneuert die Tradition, indem er die Strenge seiner Geometrien aufbricht: auf den Zeichnungen mit Wischspuren und Linien etwa, die wie Ausrutscher wirken. Das Leben bricht ein ins Glück der reinen Form. "Ich suche bestimmt nicht nach der einen richtigen Antwort. Aber das spirituelle Gefühl, von dem die Pioniere des Abstrakten sprachen, ist sicherlich nicht verloren. Ein wenig davon spüre ich heute noch, bei der Arbeit. Und wenn ich auf das Ergebnis schaue mit dem Gedanken: Das habe ich gemacht!"