Lässt sich das Konzept des Völkerkundemuseums ins 21. Jahrhundert überführen? Kann es Bestand haben angesichts von Dekolonialisierung und dem Anspruch auf Restitution geraubter Kunstobjekte? Das Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig versucht sich mit seinem Zukunftsprogramm "Reinventing Grassi" an einer Antwort. Zum Pressegespräch laden Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, und Léontine Meijer-van Mensch, Direktorin der Völkerkundemuseen in Leipzig, Dresden und Herrnhut. Man merkt beiden an, dass sie sich mit großem Ernst der Frage nach der Umstrukturierung der Museen stellen. Aber der Tradition der Völkerkunde sind unweigerlich Eurozentrismus und Kolonialismus eingeschrieben; implizit wie explizit beherrschten Hierarchisierung und Rassifizierung das Feld. Methoden und Blickwinkel des Faches müssen produktiv dekonstruiert werden. Dabei handelt es sich um einen andauernden Prozess. Ergebnis: offen.
Die zwei zentralen Stichworte der Neuerfindung sind Transparenz und Bewegung. In Bewegung gerät das Museum, weil der Umbau noch immer in vollem Gange ist, und zunächst nur ein Drittel der Ausstellungsfläche zugänglich ist. Diese Ausstellung ist also kein statisches Endprodukt, sondern ein Zwischenstand. Auch auf architektonischer Ebene öffnet sich das Museum: Es wurden Wände entfernt und Glaswände eingezogen; große Flügeltüren können bei Bedarf Raumbereiche öffnen oder verschließen. So entstanden unterschiedliche neue Raumsituationen.
Im "Care Room" hinter gewaltigen Glaswänden können Besucherinnen und Besucher die Arbeit von Restauratoren beobachten. Das sterile Glaskasten- und Laborambiente, in dem die Spezialistinnen und Spezialisten in Schutzanzügen und -masken arbeiten, steht im auffälligen Kontrast zu älteren Ausstellungsteilen, die dem Publikum ein Eintauchen in die "fremde Kultur" erlaubten. Setzt man die Mitarbeiter den neugierigen Blicken der Besucher aus, vollzieht man auch eine Umkehrung der Blickregie. Transparenz bedeutet auch Kontrolle, oder jedenfalls die Möglichkeit, Fragen an die Expertinnen und Experten zu stellen. Immer wieder betonen die Direktorinnen, dass die Ausstellung auch den Communitys, die etwa Anspruch auf die Objekte erheben oder mit dem Museum über Eigentumsverhältnisse verhandeln, offensteht.
Endlich ein Raum für pietätvolle Zeremonien
Im neugeschaffenen "Raum der Erinnerung" können endlich pietätvoll Ahnenzeremonien abgehalten werden. Diese Rituale finden im Kontext der Repatriierung von human remains an Herkunftsgesellschaften statt. Schon vor Jahren entschlossen sich die sächsischen Museen für Völkerkunde, alle menschlichen Körperteile an die Nachfahren zurückzugeben. Zugleich zeigt dieser Aspekt die besondere Brutalität im Umgang mit Gemeinschaften, deren Verstorbene in Form von "Überresten" zu Objekten völkerkundlicher Forschung gemacht wurden.
Die Botschaft hinter der Transparenzoffensive ist klar: Zu lange haben sich Museen und Kulturpolitik gegen die berechtigten Forderungen von Gemeinschaften nach Restitution ihrer Kulturgüter gestemmt. Zu oft berief man sich auf Kaufverträge; so als seien übermächtige Kolonialherren, ausgestattet nicht nur mit Geld, sondern auch mit Waffengewalt, Handelspartner auf Augenhöhe gewesen. Die Benin-Bronzen etwa gelangten nach einer Strafexpedition im Jahre 1897 in den Handel, bei der britische Truppen das damalige Königreich zerstörten.
Von der öffentlichen Debatte weitgehend unbeachtet bleibt, dass das zweitgrößte deutsche Konvolut von Benin-Bronzen in Sachsen lagert. In gewisser Weise waren die hitzig geführten Debatten um Gestaltung und Konzeption des Humboldt Forums in Berlin ein Glücksfall für die Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen (SES), weil man Zeit für die nötige Neukonzeption gewann, während der kritische öffentliche Blick auf Berlin gerichtet blieb.
Provenienzforschung muss konstant werden
Die Ausstellung im Grassi verzichtet – wohl auf Dauer – auf das Zeigen der Originalbronzen (im Gegensatz zum Humboldt-Forum). Stattdessen entwickelte der in Nigeria geborene Künstler Emeka Ogboh die Arbeit "At the Threshold", eine Serie von Porträts der Bronzen mit einer dazugehörigen Soundinstallation.
Wie viel in der Restitutionsdebatte in Bewegung geraten ist, beweist auch Marion Ackermann, als sie auf Rückgabegesuche angesprochen wird. "Dass restituiert werden muss, jedenfalls partiell, ist gar keine Frage." So ein Satz wäre vor wenigen Jahren in dieser Form wohl noch schwer denkbar gewesen. Alle Debatten um Restitution setzen allerdings gründliche Provenienzforschung voraus. Ein aktuelles Projekt zu einem Konvolut von 30.000 Objekten aus der ehemaligen deutschen Kolonie Togo ist etwa auf zwei Jahre terminiert. Angesichts der schieren Zahl der Objekte – 120.000 allein in Leipzig – muss Provenienzforschung aber ein konstantes Element der Sammlungsarbeit werden, betont Léontine Meijer-van Mensch.
Nicht nur die Objekte, auch Personen werden von der Ausstellung in den Blick genommen. Eine Schlüsselrolle für Leipzig nimmt der Kolonialgeograf und Verleger Hans Meyer ein, der 1889 den Kilimanjaro bestieg, ihn in "Kaiser-Wilhelm-Spitze" umbenannte und ebendiese Spitze nach Deutschland brachte. Eine Hälfte schenkte er dem Kaiser, die andere Hälfte gelangte in den Handel. Dem geraubten Gipfel widmet sich nun auch eine Intervention der Künstlerinnengruppe Para, die ihrerseits die Spitze der Zugspitze als "Geisel" nahm. Wenn man sie wiederhaben wolle, könne man ein Restitutionsersuchen stellen oder die Geisel freikaufen.
Spuren der Gewalt sind freigelegt
Diese doppelbödige Aktion – vordergründig witzig, aber zugleich bitterernst – legt mit einem Schlag das Denken über Besitzverhältnisse und Eigentum bloß. Das betont auch noch einmal Marion Ackermann: Man befinde sich im Besitz zahlreicher Objekte, deren legitimer Eigentümer man nicht sei. Deutlich vernehmbar ist die Hoffnung auf Einigung über mögliche Dauerleihgaben. Aber besteht nicht auch dabei die Gefahr, dass die europäischen Sammlungen sich jene Objekte herauspicken, die von "besonderem Wert" sind? Kann auf Augenhöhe verhandelt werden?
Wie glaubhaft das Bemühen um eine Neuerfindung ist, hängt sicher vom Blickwinkel ab. Dass viele Gemeinschaften skeptisch sind, erklärt sich aus der Geschichte der Restitutionsdebatte selbst. Eines aber hat sich schon jetzt verändert: Der Besucher betrachtet die 120 Objekte, die Teil der neuen Ausstellungskonzeption sind, mit großer Melancholie. Nie mehr wird man nur ihre Schönheit oder die Kunstfertigkeit der Bearbeitung bewundern. Freigelegt sind auch die Spuren der Gewalt, die sich ihnen eingeschrieben haben.