Die menschliche Erfahrung ist visueller geworden, schreibt die Kunsthistorikerin Kerstin Schankweiler in ihrem gerade erschienenen Buch "Bildproteste". Keine Protestbewegung der Gegenwart lässt sich ohne die Bildkatalysatoren der sozialen Medien denken, ohne die ein einzelnes streikendes Mädchen vor einer schwedischen Schule wahrscheinlich keine weltweiten Klima-Demos begründet hätte.
Für Aktivisten ist es heute unerlässlich, eine große Anzahl an teilbaren und infektiösen Bildern zu generieren. Kaum jemand beherrscht dies zur Zeit so gut wie die 2018 in England entstandene Klimaschutz-Bewegung "Extinction Rebellion" (XR). Ihr Narrativ ist das des zivilen Ungehorsams, um in Anbetracht der drohenden globalen Katastrophe die Politik zum Handeln zu zwingen. Doch die Fotos, die von ihren Aktionen um die Welt gehen, sind keine chaotischen Szenen oder Straßenunruhen. Sie sind fein choreografierte Inszenierungen, die viel von Performance-Kunst gelernt haben.
In dieser Aktionswoche, bei der unter anderem in London, Berlin, Paris, New York, Wien und Sydney wichtige Verkehrsknotenpunkte lahmgelegt werden, tauchen zum Beispiel immer wieder rot gewandete und weiß geschminkte Gestalten auf, die an todernste Zirkusfiguren oder apokalyptische Botschafterinnen aus der Zukunft erinnern. In Gruppen agieren sie vor der Berliner Siegessäule, dem Londoner Marble Arch oder der Oper in Sydney – und sichern so die Aufmerksamkeit der Fotografen, eine einheitliche Ästhetik und den Eindruck von einer weltweit agierenden Bewegung.
Die Kostüme, die auch ein wenig an die Uniform der Mägde in Margaret Atwoods Dystopie "The Handmaids Tale" erinnern, sind tatsächlich von Pantomime-Figuren inspiriert. Die Artistengruppe "The Invisible Circus" aus Bristol trat in ähnlicher Ausstattung in britischen Innenstädten auf, inzwischen prägt ihre "Red Brigade"-Optik die ganze XR-Bewegung.
Die Rebellen werben um die Kunstszene
Viele ihrer Happenings leihen sich Strategien der Aktionskunst. In London spritzten sie eine Kunstblut aufs Finanzministerium, in Zürich färbten sie den Fluss Limmat grün. Die Kunstszene ist für die Aktivisten besonders von Interesse, weil dort Sichtbarkeit generiert wird und viel reales und symbolisches Kapital im Spiel ist. Vor der Messe Frieze London warben sie vergangene Woche bei den Sammlern und Ausstellern um Unterstützung für ihre Forderungen, per Projektor warfen sie ihr Logo und Slogans wie "Rebel for Life" an die Fassade des Londoner Museums Tate Modern.
In dem jetzt auf Deutsch im S.-Fischer-Verlag erschienenen "Extinction Rebellion"-Handbuch "Wann wenn nicht wir" berichtet PR-Stratege Ronan McNern von seinem Vorgehen: Zunächst habe die Bewegung versucht, ganz bestimmte Personen zu erreichen und nicht gleich die breite Masse. Vor allem Verbindungen zu Journalistinnen und Journalisten herzustellen, war ihm wichtig gewesen. Mittlerweile sei man im Mainstream-Bewusstsein angekommen und will sich breiter aufstellen: "Wir sind wie ein Start-Up-Unternehmen, das seinen Mediendurchbruch geschafft hat. Jetzt ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es keine Eintagsfliege war."
Dazu braucht es starke Bilder. "Extinction Rebellion" wollen mit ihrer Strategie nicht nur auf die internationalen Straßen, sondern vor allem ins kollektive Bildgedächtnis. Sie wollen nicht nur diskutieren und argumentieren, sie wollen dahin, wo die Emotionen sitzen. Die roten Gestalten, die sich als friedliche Menschenkette stoisch vor den neongelben britischen Polizisten aufbauen, haben das Zeug zu einem der Fotos des Jahres. Und das ist kein Zufall.