Leonardo da Vinci war ein Genie. Was er erdachte, war seiner Zeit weit voraus. Auch in den Künsten war er genial. Eines war er nicht: ein strikt systematischer Arbeiter. Vieles, was er begann, ließ er unvollendet liegen. Auftraggeber vertröstete er. Manches griff er erneut auf, oder er wandte sich anderen Vorhaben zu. Wie die meisten zeitgenössischen Maler unterhielt er eine Werkstatt, die nicht nur an der Fertigstellung seiner Aufträge beteiligt war, sondern auch eigene Werke nach Art des Meisters hervorbrachte. Das gesicherte Œuvre ist schmal.
Mit dieser Hinterlassenschaft ist die kunsthistorische Forschung konfrontiert. Leonardo ist einer der schwierigsten Fälle, was Originalität und Eigenhändigkeit angeht. Wie schwierig, konnte die Öffentlichkeit am Beispiel des "Salvator Mundi" verfolgen, der 2017 für 450 Millionen Dollar über den Auktionstisch ging – und wegen begründeten Zweifeln an der Eigenhändigkeit nicht, wie wohl ursprünglich geplant, im Louvre Abu Dhabi landete.
Mittlerweile hat die Eremitage in Sankt Petersburg gleich drei Gemälde zu "echten" Leonardos erklärt, die bislang dessen Umkreis zugeordnet wurden. Eine unabhängige Überprüfung ist nicht möglich, seit wegen des Ukraine-Kriegs alle Kulturkontakte abgebrochen sind. Eremitage-Direktor Michail Piotrowski, der sich von Anfang an als Putin-Gefolgsmann hervorgetan hat, wolle "der Museumswelt eine neue Diskussionsgrundlage bieten", zitiert ihn der ukrainische Kunstwissenschaftler Konstantin Akinscha in einem Beitrag für die "FAZ".
Eines der großen Rätsel der Kunstgeschichte
Unter dem Titel "Neue Geheimnisse der Gemälde Leonardos" zeigt die Eremitage bis zum 19. Mai eine Darstellung des "Verkündigungsengels", die sich seit 1886 in der Eremitage befindet, und zwei Gemälde aus dem Besitz des (privaten) Museums für Christliche Kultur gleichfalls in Petersburg, eine "Anghiarischlacht" und eine "Felsgrottenmadonna".
Die "Felsgrottenmadonna" bedeutete, wie nahezu alle Kompositionen des 1452 geborenen Leonardo, einen neuartigen Zugang zu einem geläufigen Sujet. Entsprechend wurde das Gemälde wohl schon bald, nachdem Leonardo um 1485 daran arbeitete, in Zeichnung oder Kopie verbreitet. Als eigenhändig gelten mittlerweile zwei Versionen, die ältere im Louvre, eine jüngere in der National Gallery zu London. Die jetzt in Sankt Petersburg befindliche Tafel wird als eine in erst 1980 entdeckten Briefstellen erwähnte "dritte Version" vermutet, die Leonardo und Schüler nach 1508 von der zweiten Version kopiert haben sollen. Sie ist jedoch wesentlich farbkräftiger als die Londoner Kopie.
Die "Anghiarischlacht" ist eines der großen Rätsel der Kunstgeschichte. Konzipiert als Wandgemälde für den Palazzo Vecchio in Florenz, den Sitz der Stadtregierung, ist bis heute nicht einmal geklärt, inwieweit das Wandbild fortgeschritten war, als Leonardo 1506 die Arbeit einstellte und für mehrere Monate auf Reisen ging. Jedenfalls wurde der Saal mit seinem Wandbild und einem weiteren von Michelangelo bereits 1555 vollständig umgebaut. Spuren der Wandbilder sind nicht mehr nachweisbar. Die Komposition als solche ist überliefert, entsprechend wird das russische Bild eine Nachschöpfung von fremder Hand sein.
Vielfältige Forschungen zum Œuvre des Künstlers
Der "Verkündigungsengel" schließlich ist, anders als Akinscha schreibt, keine seitenverkehrte Kopie des Gemäldes "Johannes der Täufer", sondern geht auf eine mit letzterem verwandte Komposition Leonardos zurück, die nicht erhalten und lediglich in drei Kopien überliefert ist, darunter der in Sankt Petersburg.
Hingegen besitzt die Eremitage mit der "Madonna Benois" eines der wenigen Werke, die nachträglich als eigenhändige Schöpfung Leonardos anerkannt wurden. Akinscha erwähnt das 1909 erworbene Bild in seinem Bericht über die Eremitage nicht. Das vor dem "Salvator Mundi" zuletzt auf den Markt gelangte Werk Leonardos war das Porträt der Ginevra de'Benci, das die National Gallery in Washington 1967 erwerben konnte.
Seit den Vorbereitungen zur großen Leonardo-Ausstellung der Londoner Nationalgalerie Ende 2011 hat es vielfältige Forschungen zum Œuvre des Künstlers gegeben. Dabei sind die zahlreichen Kopien, die teilweise ihrerseits auf Kopien zurückgehen, teils in Einzelheiten auf Originalzeichnungen Leonardos fußen, noch längst nicht vollständig erfasst. Der bislang beste Werkkatalog, vom Leipziger Kunsthistoriker Frank Zöllner 2003 vorgelegt, listet 34 Kompositionen auf, die von Leonardo stammen, aber oft nicht mehr von seiner Hand überliefert sind. Es bleiben 15 Gemälde, die durchweg als "echte" Leonardos anerkannt sind und immer wieder Bewunderung genießen – eine Bewunderung, die wohl auch die international isolierte Eremitage für sich reklamieren will.
Zu dem Thema spricht Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr auch mit Detektor FM - hier zum Nachhören: