"Was ist das für eine Wissenschaft?" Als die unabhängige Expertenkommission, die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) im vergangenen Sommer beauftragt hatte, um den Antisemitismus-Vorfall der Documenta Fifteen zu begutachten, sich zu Wort meldete, schlugen selbst Wohlmeinende die Hände über dem Kopf zusammen. Zu einem Zeitpunkt, als von einer wissenschaftlichen Analyse im strengen Sinn noch keine Rede sein konnte, warfen sich fünf ihrer Mitglieder mit dem Schnellschuss ins tagesaktuelle Getümmel, die Documenta Fifteen habe eine "antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung zugelassen". Sie forderten, die Vorführung der berüchtigten "Tokyo Reels", eine Kompilation von pro-palästinensischen Propagandafilmen im Kasseler Hübner-Areal zu stoppen.
Von derart reißerischen Generalverdikten hat sich das Gremium unter dem Vorsitz der Frankfurter Politologin Nicole Deitelhoff, Direktorin des dortigen Leibniz Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), verabschiedet. Zwar heißt es auch in dem gestern von der Documenta gGmbH offiziell vorgelegten Bericht: "Die Documenta Fifteen fungierte als Echokammer für israelbezogenen Antisemitismus, und manchmal auch für Antisemitismus pur". Ansonsten werden in dem Report jedoch die Werke von vier umstrittenen Kollektiven skrupulös decodiert und bewertet.
Differenzierte Betrachtung der Werke
Auf der Grundlage einer "Minimaldefinition des israelbezogenen Antisemitismus" zwischen den umstrittenen Antisemitismus-Definitionen fällt das Ergebnis differenziert aus. Bei dem abgehängten Taring-Padi-Banner "People’s Justice" stand die antisemitische Prägung nie in Frage. Bei Mohammed al Hawajris' angefeindetem Zyklus "Guernica Gaza" lassen es die Expertinnen und Experten offen, ob er wirklich antisemitisch ist – je nachdem, ob man den Titel als Bezug auf Picassos gleichnamiges Gemälde von 1937 lese oder auf den konkreten historischen Ort. Bei einigen Bildern des "Archives des luttes des femmes en Algérie" erkennen sie stereotypisierende Darstellungen von Juden über die von israelischen Soldaten hinaus.
Im Fall der umstrittenen "Tokyo Reels" sehen sie durch die in einigen Filmen erhobene Anklage einer "Genozidpolitik" der Israelis im Libanon und die Darstellung des jüdischen Staates als "Quelle allen Übels im Nahen Osten" die Kriterien ihrer Minimaldefinition als erfüllt an. Über diese Einschätzungen wird wohl weiter gestritten werden, doch irgendeinen Pauschalvorwurf einer "antisemitischen Documenta" leiten die Expertinnen und Experten aus diesen Ergebnissen nicht ab. Der während des Streits in Kassel gegen sie erhobene Vorwurf, die Kommission wolle legitime Kritik an der israelischen Politik delegitimieren, lässt sich nach diesem Befund aber auch nicht aufrechterhalten.
Das größte Konfliktpotenzial des Berichts liegt wohl in seinen Struktur-Empfehlungen. Sie unterstreichen zwar in wünschenswerter Klarheit die Unantastbarkeit der Kunstfreiheit. Kein Wunder: Hatte doch ihr Mitglied, der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers, dazu kürzlich ein eigenes, wegweisendes Gutachten vorgelegt. Freilich schließen sie die Geschäftsführung der Documenta von den Nutznießern dieses Grundrechts aus und erklären diese, von öffentlichen Instanzen Eingesetzte, zur Treuhänderin der "Letztverantwortung der öffentlichen Hand". Die Weigerung von Sabine Schormann und Alexander Farenholtz, bestimmte Exponate in eigener Verantwortung und gegen die künstlerische Leitung zu kontextualisieren, war in dieser Interpretation der Kommission eine "Pflichtverletzung".
Brücke zu den Interventionsbedürfnissen der Politik
In dieser Rollenbestimmung lauert freilich die Gefahr eines Staatskommissars oder einer -kommissarin durch die Hintertür. Selbst wenn sich die Documenta in Zukunft intern auf "Definitionen für und Standards des Umgangs mit Antisemitismus und anderen Formen der Diskriminierung" verständigt, "die sich nicht in den Vorgaben des Strafrechts erschöpfen" (wie von der Kommission vorgeschlagen) wüchse der Geschäftsführung tendenziell eine inhaltliche Deutungsmacht zu, die in Konflikt zu der der künstlerischen Leitung steht. Der Bericht betont nämlich zugleich, die durch die Geschäftsführung angestellte künstlerische Leitung sei dieser "rechenschaftspflichtig".
Es mag sein, dass es bei der Documenta Fifteen in dem unklaren Hin und Her zwischen Geschäftsführung und Künstlerische Leitung eine "Verantwortungsdiffusion" gab. Der Satz jedoch klingt wie eine Brücke zu den Interventionsbedürfnissen der Politik: "Aus Sicht des Gremiums ist es nicht hinnehmbar, dass die Geschäftsführung – als Vertreterin der öffentlichen Hand – in der Governance-Struktur der Documenta nicht über die Instrumente verfügt, in das Ausstellungsgeschehen einzugreifen, wenn Kunstwerke jenseits der Schwelle des Strafrechts grundlegende Verfassungsnormen wie das Diskriminierungsverbot verletzen". Vor allem wenn die Ausstellung – wie in Kassel im letzten Sommer – unter dem Druck einer gnadenlos inszenierten öffentlichen Kampagne steht.
Welche politischen oder organisatorischen Schlüsse die Documenta-Gremien aus diesem Bericht auch ziehen werden: Auf jeden Fall dürften die Zeiten, in denen sich die bisherigen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer noch demütig als "Ermöglicher:innen" der ästhetischen Idee der künstlerischen Leitung beschrieben, die sich nur um Logistik, Verträge und Personal kümmern, vorbei sein.
Debatte um Antisemitismus und Postkolonialismus wird weitergehen
Auf der Leitungsebene künftiger Documenta-Ausstellungen wird nun die nüchterne Machtkonkurrenz einer Doppelspitze Einzug halten. Etwaige Kandidatinnen oder Kandidaten für die 16. Ausgabe im Sommer 2027 sehen sich neben einem überzeugenden Konzept am besten gleich auch nach einem guten Rechtsanwalt um.
Eine Schwachstelle hat der Bericht in dem, was sich als "Kunst im Kontext" bezeichnen ließe. Die Frage, wie der Charakter etwa der "Tokyo Reels" oder der Bögen der "Archives des luttes des femmes en Algérie" als Archivmaterialien in Bezug zur Kunstfreiheit und zur heutigen Diskussion zum Antisemitismus zu bewerten sind, blieb unbeantwortet.
Stutzig macht auch der kommentarlos gemeldete Rückzug der Gremiumsmitglieder Elsa Clavé (Asien-Afrika-Institut der Uni Hamburg) und Facil Tesfaye (School of Modern Languages and Cultures, Uni Hongkong), "weil sie durch den Fokus des Gremiums auf Antisemitismus ihre Perspektiven aus der Postkolonialismusforschung nicht genügend vertreten sahen". Bislang lässt sich nur darüber spekulieren, was die wahren Gründe für den Rückzug gewesen sind. Der wichtige Streit um die kolonialen Hintergründe der Migration antisemitischer Zeichen und Symbole und um den Zusammenhang von Antisemitismus und Postkolonialismus wird also auch nach diesem Gutachten weitergehen.