Die Kamera gleitet über die Körper Schwarzer schlafender Männer. Urwaldgeräusche, dann ein Schnitt auf eine nächtliche Landstraße, auf der ein Bus unterwegs ist. Plötzlich sind wir in Europa. Zwei junge Männer aus Belarus haben sich unter johlende Fußballfans gemischt, um im Reisebus über die Grenze nach Polen zu kommen und weiter nach Frankreich zu flüchten. Der eine ertrinkt in der Oder, der andere, Aleksei (Franz Rogowski) erreicht das Etappenziel: In Paris lässt er sich als Fremdenlegionär rekrutieren. Wer sich hier bewährt, kann nach fünf Jahren einen französischen Pass bekommen.
Aleksei träumt von einer neuen Identität. Er wird am Ende tatsächlich ein anderer Mensch sein, aber nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Der Dschungel, der Krieg – man denkt an "Apocalypse Now" und an das Gemetzel, bei dem die einen sterben und die anderen seelisch zerbrechen. Aber der italienische Regisseur Giacomo Abbruzzese, dem mit seinem Spielfilmdebüt gleich ein großer Wurf gelingt, durchkreuzt die Erwartungen. Er erzählt von der Identifikation mit dem Feind, von Geistern und einer Seelenwanderung.
"Disco Boy" ist der bisher stärkste Film in einem bislang mäßigen Berlinale-Wettbewerb, allerdings ist erst die Halbzeit erreicht. Parallel zu Alekseis Geschichte erzählt Abbruzzese, der auch das Drehbuch schrieb, von Jomo (Morr Ndiaye), der am Nigerdelta für sein Dorf und gegen die das Land ausschlachtenden Ölkonzerne kämpft. Ebenso lernen wir Jomos Schwester Udoka (besetzt mit der Künstlerin und Aktivistin Laëtitia Ky) kennen, die ihr Glück als Tänzerin in Europa machen will, weil sie die Heimat schon aufgegeben hat: Helikopterperspektiven zeigen eine von Profitgier, Ölverschmutzung und bewaffneten Auseinandersetzungen zerstörte Landschaft.
Auf diesem Schlachtfeld treffen Aleksei und Jomo zusammen. Im schlammigen Wasser des Niger kämpfen Mann gegen Mann. Die Konfrontation wird in die Falschfarben von Nachtsichtgeräten getaucht. Die Bilder, die Fronten, die Körpergrenzen verschwimmen. Jomo stirbt im Niger, Aleksei begräbt ihn am Flussufer.
"Disco Boy" glänzt durch formalen Wagemut
Die naturalistische Ästhetik des Anfangs ist längst delirierenden Bildern gewichen (Kamera: Hélène Louvart), nicht nur wegen der fremdartigen Wärmebilder. Rogowskis rechter Augapfel zuckt schon in der Pariser Métro im Stakkato. Man traut dem deutschen Schauspieler (der in Ira Sachs’ Forum-Film "Passages" noch den Ehemann von Ben Whishaw spielt) ja fast alles zu, aber das Augenzucken dürfte ein Special Effect sein.
Ein Tanz von Udoka und Jomo ums Feuer folgt einer eigenartigen Freestyle-Choreografie, die man in einem nigerianischen Dorf kaum erwartet. Udoka will als Tänzerin nach Paris, und auch Jomo sagt, er könnte irgendwo in Europa ein "Disco Boy" werden – würde er nicht unbeirrt an der Seite seiner Brüder kämpfen. Der Film unterläuft nicht zuletzt eurozentrische Vorstellungen vom afrikanischen Kontinent – Abbruzzese verweigert die übliche Folklore und ersetzt sie durch Künstlichkeit, die keine kühle, sondern eine schillernd vielgestaltige Irrealität ist.
Am Ende will Aleksei kein Franzose mehr werden. Es zieht ihn in das Niemandsland eines Pariser Clubs, in dem er auf Udoka trifft und mit ihr tanzt, als wäre Jomo in ihn gefahren. Und genau das passiert in diesem irren, tiefgründigen, faszinierenden Film. "Disco Boy" glänzt durch formalen Wagemut, eine Eigenschaft, die auf der Berlinale leider viel zu selten zu erleben ist.