Können digitale und technische Möglichkeiten das Erleben von analoger Kunst bereichern? Können sie überhaupt einen neuen Zugang schaffen? Oder sind sie doch nur (lästige) Ablenkung? Seit einigen Jahren ist in der Kunstwelt ein digitaler Wandel spürbar: Immer mehr VR-Brillen finden ihren Weg ins Museum, die klassischen Ausstellungstexte müssen nicht selten kleinen QR-Codes weichen, die lässig abgescannt mit dem Smartphone weit mehr als nur ein paar Zeilen zum Werk bereithalten. Videoclips und Audiospuren gibt es obendrauf.
Dass man sogar getrost ganz auf die analogen Originale verzichten kann, scheinen die großen immersiven Wandershows zur Kunst von Dalì, Klimt oder auch van Gogh zeigen zu wollen, die seit geraumer Zeit boomen. Da werden Oeuvre und Biografie des entsprechenden Künstlers multimedial dargestellt, Werke werden animiert an die Wand geworfen und Kulissen nachgebaut. Der Renner: "Monets Garten", ein Las Vegas der Kunst, bei dem man die eigene Imaginationskraft an der Garderobe abgibt, um sich einer "360-Grad-Erlebnisreise" durch das Schaffen des Impressionisten hinzugeben.
Kunstwerke durch eine Fusion aus Digitalität und technischer Raffinesse zu ersetzen, wie es bei diesen kommerziellen Shows der Fall ist, sollte jedoch eher nicht die digitale Strategie von Museen und Galerien sein. Vielmehr gilt es, abzutasten, in welcher Hinsicht ebenjene Möglichkeiten zum Erleben von physischer Kunst konstruktiv beitragen können, ohne zu weit von ihr wegzuführen.
Vom Handy ins Museum
Mit diesem Thema haben sich auch die Kunsthalle Mannheim und das Kunstmuseum Stuttgart in ihrem Forschungsprojekt "Vom Werk zum Display" über mehrere Jahre beschäftigt: Die Frage: "Wie gelingt es, Kunstwerke im virtuellen Raum in ihrer einzigartigen Qualität zu vermitteln?" Dabei wurden für jeweils elf Werke beider Häuser verschiedene "Episoden" entworfen, die unterschiedliche Ansätze und Herangehensweisen haben. Ursprünglich in Coronazeiten für Kunstinteressierte an den eigenen Endgeräten entwickelt, sind die Ergebnisse des Projekts nun auch vor Ort in den Museen zugänglich.
Ein Besuch im Stuttgarter Kunstmuseum zeigt, dass das Team aus Kunstexpertinnen zusammen mit den Agenturen Fluxguide und Wegesrand sowie dem Internationalen Trickfilm-Festival Stuttgart (ITFS) und dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ganz unterschiedliche Vermittlungsmethoden auslotet. Und das bei einem breiten künstlerischen Spektrum: Von Skulptur über Gemälde bis hin zur Installation gibt es Episoden für verschiedene Kunstformen. Was sie alle im Museum eint, sind die Stelen mit den Tablets, die den Besucherinnen signalisieren, dass es hier noch mehr zu erkunden gibt.
Der Parcours beginnt bei Mona Ardeleanus Bildern und führt weiter zu Johannes Ittens "Der Bachsänger" von 1916. Ardeleanus Gemälde vermengen Federn, Fächer, Knochen, gemusterte Stoffe und Haare miteinander, sodass eigenartige Gebilde entstehen, die nicht selten animalische Züge annehmen.
Im Museum eine eigene Collage erstellen
Die Besucherin hat hier am Tablet die Möglichkeit, eine eigene Collage im Stil von Ardeleanu zu erstellen. Es ist ein wenig das, was man befürchtet hatte: Der Touchscreen zieht an, saugt ein und führt dazu, dass man die eigentliche Kunst aus den Augen verliert. Ähnlich geht es einem auch beim digitalen Angebot zu Johannes Itten. Hier wird die Farbtheorie des Bauhaus-Meisters anhand des Farbkreises erklärt.
Sicher: Um die Kunst des Schweizers einordnen zu können, ist die Erwähnung seiner Farbtheorie essenziell. Auch die Idee, den Farbkreis am Tablet neu drehen und so ein Gefühl für die Veränderung der Schattierungen im Bild bekommen zu können, ist keine schlechte. Was aber in der Praxis passiert, ist, dass man sich einmal durch den Farbkreis klickt und dann gelangweilt von Werk und Tablet ablässt. So ist das leider manchmal mit den Menschen und den digitalen Angeboten – es muss schnell gehen, möglichst viele Reize müssen erzeugt werden, und wenn nichts Neues mehr kommt, wird es uninteressant.
Weiter geht es: Was haben die digitalen Episoden im Stuttgarter Kunstmuseum noch zu bieten? An mehreren Stationen gibt es Kopfhörer. Dort werden die Touchscreen-Aktivitäten gegen Tonspuren ausgetauscht, die über das Display aktiviert werden müssen. So auch bei Otto Dix‘ berühmtem Triptychon "Großstadt" von 1927/28. Hier kann sich die Besucherin vor das Werk setzen und sich von verschiedenen dargestellten Figuren – dem Bettler, dem tanzenden Paar und der Frau mit der Stola – ihre individuellen Geschichten und Perspektiven auf das Geschehen erzählen lassen. War man bei Ardeleanu und Itten noch abgelenkt, so wird man nun förmlich in das Werk hineingezogen. Dieses Konzept geht auf und ist eine wunderbare Lösung, um auch Menschen, die weniger kunstaffin sind, Impulse zur Bildbetrachtung mitzugeben.
Mit Wolfgang Laib zur Ruhe finden
Auch zu Wolfgang Laibs "Wachsraum", der seit 1989 Teil der Sammlung ist, gibt es eine Audiospur. Es handelt sich um eine Meditation. Klingt vielleicht zunächst gewöhnungsbedürftig, ist aber auf unterschiedlichen Ebenen sehr passend. Zum einen strahlt das Kunstwerk, ein Gang, der komplett mit gelblichen Wachsplatten verkleidet ist, durch seinen Duft, die Enge und die Farbgebung selbst eine beruhigende Stimmung aus. Zum anderen ist diese akustische Vertiefung auch ein Verweis auf den Künstler, der sich viel mit Zen-Buddhismus und Taoismus beschäftigt.
Wer also Lust hat, sich auf diese zehnminütige Meditation einzulassen, kann das Kunstwerk noch einmal umfänglicher wahrnehmen. Ursprünglich als eine Art Traumreise für daheim gedacht, funktioniert die Audiospur auch vor Ort im Museum.
Die Episode zur Installation "Les Délices des Évêques" (1997) der kürzlich verstorbenen Künstlerin Rebecca Horn führt die Besucherin wieder direkt zum Bildschirm. Denn hier gibt es eine künstlerische, beziehungsweise historische Einordnung der Arbeit in Form eines Animationsfilms, der von Ruth Lingford und Anna Makarova produziert wurde. Dabei ist Horns Werk in seiner thematischen Stoßrichtung schon recht deutlich: Zwei Stühle hängen sich gegenüber in der Luft, an einem ist ein vertrockneter Blumenstrauß befestigt, hinter dem anderen kleben Blutspritzer an der Wand. Nun wird der eine zum Pendel und schlägt aus, während sich bei dem anderen Metallstäbe spreizen. Dazu ein peitschendes Seil und eine selbstspielende Geige.
Erleben statt erklären
Assoziationen mit Folter und Verhör liegen nahe, man betrachtet das Werk mit einem beklommenen Gefühl. Das Video geht einen Schritt weiter und erzählt die Geschichte der Hexenverfolgung. Mit Blick auf den Titel – zu Deutsch "Die Wonnen der Bischöfe"- und das Sujet der Installation, kann das Video sicherlich bei der Deutung und Einordnung weiterhelfen. Es ist allerdings die Frage, ob Kunst so klar interpretiert werden will, und ob Betrachter diese Kontextualisierung zwingend brauchen.
Was Menschen beim Anschauen von Kunst hilft oder nicht, ist individuell. Mit digitalen Angeboten können Museen vermutlich eine neue Klientel für sich gewinnen, andere sind dadurch vielleicht eher abgeschreckt. Dass Kunstorte im digitalen Zeitalter mitziehen möchten, ist völlig legitim. Der experimentierfreudige und offene Ansatz des Forschungsprojekts "Vom Werk zum Display" geht bei der Suche nach dem richtigen musealen Umgang mit der Virtualität in eine gute Richtung.
Dennoch sollte über allen digitalen Maßnahmen und Methoden immer die Frage stehen, ob diese Mittel einen neuen Zugang eröffnen oder doch nur den Blick auf das Kunstwerk verstellen. Dann nämlich sind sie eher Spielerei – und grundsätzlich bleibt die Erkenntnis: Künstler und ihre Kunst wollen gemeinhin nicht erklärt, sondern erlebt werden.