In Chile kennt man ihn als mutigen Journalisten, der als Chefredakteur des oppositionellen Fernsehsenders Teleanálisis die Verbrechen des Pinochet-Regimes dokumentierte und später als Kulturredakteur im staatlichen Fernsehen den Aufbruch des südamerikanischen Landes in die Demokratie begleitete. Ja, fast jeder kennt Augusto Góngora, aber Augusto Góngora kennt sich selbst nicht mehr. Er steht im Schlafzimmer, schaut seine Reflektion im Fenster an und fragt sich voller Angst: "Was passiert mit mir?"
Was passiert mit mir? Wo bin ich? Wo ist mein Zuhause? Wer sind Sie? Die vielen Fragen, die der 2014 mit Alzheimer diagnostizierte Journalist an die ihn mehr und mehr überfordernden Situationen hat, beantwortet geduldig seine Frau. Auch Paulina Urrutia ist in Chile berühmt, als Schauspielerin und zeitweilige Kulturministerin. Seit über 20 Jahren sind Paulina und Augusto ein Paar, ihre Geschichte wird in dem Dokumentarfilm "Die unendliche Erinnerung" immer wieder von Neuem erzählt - weil Augusto sie am nächsten Tag schon wieder vergessen hat. Am Beginn des Films sieht man ihn immer wieder überrascht von seinem Glück, mit "Pauli" verheiratet zu sein. Mit fortschreitender Krankheit erkennt er sie kaum noch und Misstrauen schleicht sich ein. Es führt kein Weg zurück, die Tage werden enger.
Mit "Die unendliche Erinnerung" hat die oscarnominierte Regisseurin Maite Alberdi - mit ausdrücklicher Einwilligung Augusto Góngoras - einen berührenden und erschütternden Film über den Umgang mit Alzheimer geschaffen. Vor allem aber ist es ein Film über die Kraft des Zusammenseins, denn was ist Liebe anderes, als den anderen immer wieder zu zeigen, wer er ist. Wie sehen Paulina und Augusto bei Spaziergängen, bei Angstattacken, beim Lachen, bei Zusammenbrüchen und, tatsächlich, beim Schwelgen in Erinnerungen.
Meditation über Bilder als Erinnerungsspeicher
"Die unendliche Erinnerung" wurde in Chile zum erfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten und verdrängte in der Startwoche den Blockbuster "Barbie" von der Spitze der Kinocharts. Dabei hätte die Corona-Pandemie das Projekt beinahe beendet, schließlich konnte Maite Alberdi das Paar nun nicht mehr besuchen und Paulina Urrutia musste selbst filmen. Doch gerade diese Abgabe von Kontrolle, die immer wieder in verschwommenen, verwackelten und dunklen Bildern resultiert, gibt dem Film eine angemessene Form, wenn auch die Bilder im Kopf des Patienten verschwimmen, verwackeln und sich verdüstern.
"Die unendliche Erinnerung" ist mit diesen Camcorder-Aufnahmen, den immer wieder abgefilmten Fotos an den Wänden und den Amateurfilmen aus besseren Zeiten auch eine Meditation über Bilder als Erinnerungsspeicher, die mal mehr, mal weniger verlässlich sind. Brillant gelingt es Maite Alberdi, von der persönlichen auf die politische Dimension von Bildern zu kommen, wenn sie den früheren Beruf Góngoras ins Spiel bringt. Wir sehen einen Pressekonferenz nach der Diktatur, in dem der Journalist lange über Erinnerung als Wegweiser zur Zukunft, als Instrument der Aufarbeitung der Morde und Folterungen spricht. Es ist tragisch anzusehen, wie er später selbst seine Erinnerung verliert. Aber auch, wie sehr die Traumata in ihm weiter wühlen, wenn ihm ganz plötzlich ein Freund einfällt, dem die Kehle durchgeschnitten wurde und er in Tränen ausbricht.
Augusto Góngora ist im vergangenen Jahr mit 71 Jahren gestorben, kurz nachdem der Film auf der Berlinale lief. "Die unendliche Erinnerung" setzt nicht nur ihm ein Denkmal, sondern auch Paulina Urrutia, die als Schauspielerin die Mittel besitzt, die Geschichte ihrer Liebe jeden Tag neu zu erzählen, und als Liebende die Kraft und Geduld, einem Verfall beizuwohnen, dem sie nichts entgegenhalten kann, außer ihrer beeindruckenden Fürsorge.