Documenta-Debatte

Die neue Sehnsucht nach dem starken Kurator

Nach den Documenta-Eklat wünschen sich viele wieder mehr Strenge beim Ausstellungsmachen. Dabei wurde nach der letzten Ausgabe der Weltkunstschau die Abschaffung der vermeintlich autoritären Kuratorenzunft gefordert. Wie viel Kontrolle braucht die Kunst?

Keine Documenta ohne einen wütenden Bazon Brock. Nach der Eröffnung der 14. Ausgabe der Weltkunstschau vor fünf Jahren fantasierte der emeritierte Ästhetik-Professor davon, dass "die Kuratoren alle zum Teufel gehen": "Das, was in Kassel geboten wird, ist unter aller Sau und hat keinerlei Profil. Die Kuratoren haben auf der gesamten Bandbreite versagt und sind noch absurder organisiert als der Markt", polterte Brock damals im Deutschlandfunk.

Er hingegen glaube an die Autonomie von Künstlern, die "weder für den Markt, noch für den Bischof, noch für den Kanzler, noch für irgendjemand" arbeiten. Die würden sich durchsetzen, "denn das ist das Genuin. Man könnte fast schon sagen ein allgemein menschliches Verlangen: Unabhängigkeit im Sinne von Freidenkertum"

Eigentlich hätte Bazon Brock also entspannt der Eröffnung der Documenta Fifteen (D15) entgegensehen können, schließlich wurde mit Ruangrupa ein interdisziplinäres indonesisches Kollektiv mit der künstlerischen Leitung beauftragt, das für seine "lateralen, horizontalen Arbeiten und horizontalen Entscheidungsprozesse" bekannt ist, wie Philippe Pirotte sich als Mitglied der D15-Findungskommission einst freute. Bedeutet: viel Autonomie für die eingeladenen Künstlerinnen, Künstler und Kollektive, Vertrauen auf Selbstorganisation statt Kontrolle und strenge Auswahl. 

Flachen Hierarchien in der Kritik

Doch nach dem Documenta-Skandal sind die Karten neu gemischt: Vergangene Woche war das Banner "People's Justice" des Künstlerkollektivs Taring Padi wegen antisemitischer Bildsprache abgehängt worden. Es sei die Aufgabe und die Verantwortung der Generaldirektorin der Documenta, Sabine Schormann, und von Ruangrupa gewesen, angesichts der bereits vor der Eröffnung laut gewordenen Antisemitismusvorwürfen jedes Kunstwerk zu überprüfen, heißt es nun.

Jetzt steht auch Ruangrupas kuratorisches Prinzip der flachen Hierarchien in der Kritik. "Das Kollektiv Ruangrupa, in dem keiner der Hauptverantwortliche ist, hat die Aufsicht an einzelne Künstlerteams übertragen, hakt man nach, wer die Tausenden von Kunstwerke von 1700 Künstlern begutachtet hat, wer dafür in der Verantwortung steht, verhallt die Frage irgendwo in Kassel", hieß es in der "Süddeutschen Zeitung". "Dabei kann eine Ausstellung nur gelingen, wenn die einzelnen Werke einem Kurator bekannt sind, der sie in eine sinnvolle, funktionierende Beziehung zueinander setzt. Dabei kann ein echter Dialog nur gelingen, wenn ein Austausch passiert, nicht, wenn man unterschiedliche Weltsichten ohne Rücksicht aufeinanderprallen lässt."

Auch Hessens Kunstministerin Angela Dorn mahnt jetzt "verantwortungsvolles Kuratieren" an. "Die Welt" sieht in dem Vorfall "den jahrhundertealten Kampf zwischen Individuum und Kollektiv": "Inzwischen weiß man, was gescheitert ist: das Prinzip Verantwortung. Selbst Tage nachdem die antisemitischen Werke identifiziert worden waren, wollte niemand dafür einstehen. Dafür steht das Prinzip Kollektiv nämlich auch: für einen Herrschaftsgestus, der, Harmlosigkeit vorschützend, sich der Rechenschaft entzieht."

Selbst die mit Rücktrittsforderungen konfrontierte Documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann erklärte den Vorfall damit, dass Ruangrupa sich nicht im klassischen Sinne als Kuratorinnen und Kuratoren verstehen: Eine Konsequenz dieses Prozesses sei es, "dass dabei auch eine gewisse Autarkie entstanden ist, die selbstverständlich nicht zu solchen Darstellungen führen darf", sagte sie der "HNA".

Kuratoren als Symbol für die Zumutungen der Globalisierung

Es gibt also wieder eine Sehnsucht nach einer starken Kuratorenfigur. Dabei zog der gesamte Berufsstand nach der letzten Documenta, die mit ihrem Leiter Adam Szymczyk den Etat überzog, pauschal Häme und Hetze auf sich. Die "Zeit" forderte: "Schafft die Kuratoren ab!" Die "NZZ" wollte die "abgehobene und intellektuell verstiegene Kuratoren-Kaste" entmachten. Vom Versenken "Unsummen deutscher Steuergelder" sprach die "Welt" und fragte, "wer für diesen kuratorischen Amtsmissbrauch haftbar gemacht werden kann". "Es ist ein Wendepunkt", sagte Kuratorin Bettina Steinbrügge, heute Direktorin des Mudam in Luxemburg, damals im Monopol-Interview. "Das Bashing ist nicht adäquat, aber offensichtlich hat sich einiges angestaut."

Was genau? Der Kurator im heutigen Verständnis ist ein Geschöpf der Globalisierung und der Digitalisierung, er zieht deshalb auch die Verunsicherung und den Ärger auf sich, die diese weltumwälzenden Prozesse mit sich bringen: Der Zunft werden Netzwerkertum, Dünkelhaftigkeit und Abgehobenheit unterstellt. "Was eben noch als Inbegriff flexibler Selbstbestimmung bejubelt wurde, gilt heute als Schreckgespenst neoliberaler Ausbeutung und prekärer Arbeitsverhältnisse", schrieb Sebastian Frenzel ìn Monopol 1/2018. "Das disziplinenübergreifende Ausstellungsmachen wird nicht mehr als befreiend und dynamisch begrüßt, sondern als Inbegriff der Ignoranz und Inkompetenz verdammt."

In jenen Tagen, in denen mit dem Einzug der AfD in die deutschen Parlamente und dem Brexit die Stimmung gegen den "Citizen of Nowhere" (Theresa May) auf dem Höhepunkt war, wurde der Kurator zum Sündenbock für die Zumutungen der Globalisierung und Gentrifizierung. "Es gibt eine Magie der kuratorischen Rhetorik", sagte Kurator Tirdad Zolghadr damals Monopol, "die den Eindruck des anything goes verleiht. Wir behaupten, nicht in alten Kategorien zu denken, sondern kritische Fragen zu stellen. Wir behaupten, die Kunst überbrücke soziale Klassen, sie sei postethnisch, postdisziplinär, postgender und so weiter. In Wahrheit aber ist die Kunstwelt sehr wohl ein klar reguliertes Feld mit Machtstrukturen und Hierarchien, nur sind sie eben nicht transparent."

Wer soll wie viel Einfluss haben auf die Weltkunstschau?

Dass Ruangrupa für Transparenz sorgen und den herkömmlichen Netzwerken ein Ende setzen wollten, wird nun durch den Eklat kaum noch gesehen. Mit der Veröffentlichung ihrer Künstlerliste in einem Straßenmagazin hatte die Gruppe schon vorab die Stoßrichtung vorgeben: Sie wollte ihren kollektiven Ansatz auch in den Strukturen des Megaevents verankern. Erstmals hatten die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler – viele von ihnen ebenfalls Kollektive – selbst ein Mitspracherecht bei der Verteilung der Produktionsgelder. 

Nie wurde Documenta-Künstlern so viel Freiraum zugestanden wie auf der D15. Die Debatte steckt nun fest in der Frage: Zu viel Freiraum? Braucht es mehr Autoritäten? Wenn ja, auf Kuratoren- oder der Künstlerseite? Inzwischen konzentriert sich die Diskussion auf die Gremien: Wer soll wie viel Einfluss haben auf die Weltkunstschau? In der nächsten Runde gerät die Findungskommission für die Documenta-Kuratoren in den Blick - dort entdeckt die "Welt" in einem Artikel vom Dienstag nun endlich wieder den klassischen "Kunst-Jetset" und eine "Kuratoren-Elite", als die Ruangrupa selbst kaum wahrgenommen werden kann.

Doch Pauschalisierungen helfen auf keinen Fall weiter. Die kuratorischen Ansätze von Adam Szymczyk und Ruangrupa stellen zwei weit voneinander entfernte Pole des Ausstellungsmachens da. Es ist richtig, jetzt Verantwortlichkeiten zu benennen. Doch eine Großausstellung wie die Documenta ist keine Maschine, die nach dem Anziehen der richtigen Schrauben wieder funktioniert. Kuratieren ist eine veränderliche Praxis, die mit veränderlichen Verhältnisse umgeht.