Was hat die Tarotkarte "Der Stern" mit der Selbstbestimmung eines sich als queer identifizierenden Schwarzen Mannes zu tun? Was mit maskulinen Rollenklischees und der Schwarzen Diaspora oder mit der Politik des Visuellen, die bei der Herausbildung widerständiger Subjekte eine wichtige Rolle spielt? Und wie laufen all diese Themen in dem glitzernden, poppigen Bild "L’étoile" (2020) von Devan Shimoyama zusammen?
Allein über dieses Werk des 1989 in Philadelphia, USA, geborenen Künstlers ließe sich eine mehrseitige Abhandlung verfassen. "L’étoile" ist Teil der Ausstellung "All the Rage" im Kunstpalais Erlangen, der ersten Solo-Präsentation des aufstrebenden Künstlers in Europa.
Die Malerei, oder besser: die Assemblage-Malerei Shimoyamas ist extrem vielschichtig und mit ihren Verweisen sehr komplex. Und doch gelingt es ihm, die Essenz seines noch jungen Œuvres ausgerechnet in einem scheinbar nebensächlichen Detail zu komprimieren. Einer Auslassung: In der Mehrzahl seiner Arbeiten sind die einzelnen Bildelemente von einer rosafarbenen Umrisslinie eingefasst. Diese Kontur entsteht dadurch, dass er schmale Abstände zwischen den Motiven lässt, so dass der Blick auf die schrille Grundierung frei wird.
In jenen Zwischenräumen liegt das ganze Universum, die Energie des Möglichen, wie er es formuliert. "Ich sehe meine Gemälde als Einladung, Kreativität als Werkzeug zu benutzen, um sich die Zukunft neu vorzustellen." Eben diese offene, denk- und machbare Zukunft bildet das Grundrauschen seiner Werke.
Diskriminierung und Unterdrückung scheinen überwunden
In seinen Assemblagen kombiniert Shimoyama klassische Materialien der Malerei wie Öl, Farbstift, Acryl und Flashe mit unkonventionellen Zusätzen: Durch den Einsatz von Pailletten, Strass, Federn und Schmuck – Dekor, das Shimoyama mit Bezug auf die Drag-Szene verwendet – sowie anhand von Stoffen, Kleidungsstücken und vielem mehr kreiert er schillernde Fantasiefiguren. Sie bewohnen eine alternative, zuweilen psychedelische Zukunft, in der Diskriminierung und Unterdrückung jeglicher Art sowie einengende Rollenzuschreibungen überwunden wurden.
Seine Charaktere muten dabei wie ephemere Lichtgestalten an, ihre Hautfarben changieren von Dunkelgrün zu Hellgelb, von Orange zu Himbeerrot. Durch diese Farbverläufe erhalten sie etwas Pulsierendes, als fließe ein kontinuierlicher Energiestrom durch sie hindurch. "Die Farbstufen repräsentieren die Unendlichkeit, die der Körper beinhaltet", erklärt der Künstler. "Die Figuren platzen vor göttlicher Ekstase!" Häufig verwendet er Magazin-Abbildungen geschminkter Lippen, um die Münder seiner Figuren darzustellen und lässt anstelle der Augen Schmuck funkeln – eine Referenz nicht nur an die queere Szene, sondern auch an die umsorgenden Frauen seiner Kindheit, die sich für den sonntäglichen Kirchgang herausputzten.
Shimoyamas visueller Widerstand richtet sich gegen Alltagsrassismus und vorherrschende Männlichkeitsbilder sowie gegen Schwulen- und Frauenfeindlichkeit. Dabei verzichtet er bewusst auf die Darstellung schädlicher und stereotypischer Repräsentationen und setzt diesen in den Massenmedien täglich auftauchenden Negativbildern kraftvolle Ikonen gegenüber. Eine Art "kathartische Befreiung", wie er sagt.
Die Protagonisten zeigen Schwäche und Verletzlichkeit
So entwirft er beispielsweise in seinen "Barber Shop-Paintings" (2017 bis heute) Vorbilder einer selbstbestimmten Schwarzen männlichen Identität. Entgegen den an Orten wie einem Barber Shop transportierten maskulinen Rollenklischees zeigen seine Protagonisten Schwäche und Verletzlichkeit und schöpfen hieraus eine neue Art der Stärke. In einer weiteren Serie untersuchte Shimoyama alternative Wege der Identitätskonstruktion, die abseits des vorrangig durch weiße Protagonisten geprägten Kunst- und Literaturkanon verlaufen.
Auch die im Kunstpalais Erlangen gezeigten Arbeiten kreisen um Fragen der Wahrnehmung und Identitätsbildung: "Ich habe für alternative Praktiken interessiert, die Leute in meinem Alter, die meine Erfahrungen teilen und sich ähnlich wie ich identifizieren, benutzen, um sich selbst anzuschauen und zu verstehen". Wie schon in früheren Werken bedient sich der Künstler hier unterschiedlicher Bezugssysteme. Elemente aus Tarot (beispielsweise in seiner Adaption der Karte "der Stern" in der Arbeit "L’étoile"), Astrologie, Mythologie, Yoga, Meditation und Religion tauchen auf, verbinden sich mit persönlichen Momenten und seinen typischen Materialien.
Die Figuren grüßen aus ihrer glitzernden Welt
Die so entstehenden Wunderwelten und ihre Bewohnerinnen und Bewohner – der Künstler selbst sowie ihm nahestehende Menschen – machen den Anschein, als hätten sie ihren Weg zu innerer Balance und Ruhe bereits gefunden. Stolz und selbstsicher stehen sie über fremd-formulierten Anforderungen an sie und grüßen uns aus ihrer glitzernden Welt heraus.
Doch auch der Bezug der realen Schwarzen Diaspora taucht immer wieder auf: Shimoyama verweist im Zusammenhang mit dem Motiv des Wassers auf den Weg, zu dem die versklavten Menschen bei ihrer Entführung aus der Heimat gezwungen wurden und auf den Ozean, der fortan zu einer Grenze zwischen den zwei Welten wurde. Die mit Wasser in Verbindung stehenden Figuren sind sowohl eine Hommage an diese Männer und Frauen als auch eine Personifizierung der heilenden Wirkung von Wasser. Gleichzeitig lässt "L’étoile" an Lorna Simpsons Arbeit "Waterbearer" (1986) denken – und damit an die Frage nach der Vorherrschaft bestimmter Erzählungen.