Venedig ist eine Kommune, in der jeder über die schleichende Zerstörung durch Übernutzung und unsachgemäßes Verhalten klagt, aber keiner etwas ändert, so lange die Kuh gemolken werden kann, sprich Profit aus eben diesem overtourism gezogen wird. Die Verbannung der Kreuzfahrtschiffe von der alten Stazione Marittima in den weit entfernten Handelshafen von Marghera kam auch erst nach jahrelangen Protesten gegen die Riesenpötte zustande, deren fototrächtige Durchfahrt durch den Canale della Giudecca ein fester Programmpunkt der Kreuzfahrtveranstalter war.
Für die venezianische Doppelzüngigkeit steht vor allem der seit 2015 amtierende Bürgermeister Luigi Brugnaro, ein Geschäftsmann, der in Mestre auf dem Festland lebt und alles dafür tut, dass die Stadt der Goldesel bleibt, der sie nun einmal ist. Da hinein stößt nun aber der Aufschrei – anders kann man es gar nicht bezeichnen – des 92-jährigen Arrigo Cipriani. Cipriani? Das ist doch diese Edelmarke sündteurer Nudeln, vor allem aber jenes Mixgetränks namens Bellini, das hektoliterweise in Ciprianis Stammhaus, der spätestens seit Hemingway weltberühmten Harry's Bar unweit des Markusplatzes, verabreicht wird.
Aber um Harry's Bar geht es diesmal nicht, sondern um den edlen Ableger des Etablissements namens Harry's Dolci. Das ist ein Restaurant auf der Giudecca, der Insel auf der anderen Seite des gleichnamigen Wasserwegs, gelegen fast an deren Ende kurz vor dem mächtigen Backsteinbau der zum Luxushotel umgebauten Molino Stucky. In Harry's Dolci sitzt man bei warmem Wetter im Freien direkt am Wasser, sonnenbeschirmt und heckenumzäunt, und speist vorzugsweise tagsüber, ganz sicher eingeleitet von dem ein oder anderen Bellini.
Das Vergnügen, am Wasser zu sitzen, ist allerdings kein ungeteiltes. Denn, und das ärgert Arrigo Cipriani, immer öfter werden Schuhe und Hosenbeine der betuchten Klientel von hochschwappenden Wellen benetzt, verursacht durch rücksichtslose Motorbootfahrer, zumeist Taxis – und in Venedig ist das Gewerbe immer noch eine Männerdomäne –, die weit schneller als die in dem breiten Canale erlaubten sieben Stundenkilometer dahinbrausen. Merkt ja eh keiner! Die Messgeräte namens Barcavelox, für die sich der Verkehrsausschuss der Stadtverwaltung längst ausgsprochen hat, sind immer noch nicht installiert, weil es in der höheren Politik Widerstand gibt.
"Sie tun nichts gegen den Wellenschlag"
"Sie tun nichts gegen den Wellenschlag und den Schaden, den das meinem Unternehmen Harry's zufügt", ereiferte sich Arrigo Cipriani in einem Interview mit dem angesehenen "Corriere della Sera": "Immer öfter finden sich die Gäste von Harry's Dolci mit nassen Füßen wieder, durch die Wellen, die Bootsführer ohne Rücksicht auf die Gschwindigkeitsbegrenzung verursachen." Der Gang an die Öffentlichkeit ist ein probates Mittel, um die notorische Selbstblockade der Politik aufzubrechen. Arrigo Cipriani tat ein Übriges und reichte Klage gegen die Stadt und ihre Hafenbehörde ein. Deren Leiter erklärte dazu säuerlich, dass seine Behörde "das ganze Jahr über" die Geschwindigkeit überwache.
Allerdings hat die Zahl schwerer Unfälle zugenommen, von der alltäglichen Gefährdung der sanft auf dem Wasser schaukelnden Gondeln ganz abgesehen. Dass der Rechtsweg von einem so angesehenen Mitglied der städtischen Oberschicht wie dem Seniorchef des 1931 begründeten Unternehmens Cipriani beschritten wird, erhöht die Erfolgsaussicht durchaus.
In der Lagune außerhalb des Stadtgebiets von Venedig beträgt die zulässige Höchstgeschwindigkeit übrigens 20 Stundenkilometer. Wer je mit dem Taxi zwischen Flughafen und Stadt unterwegs war, erfährt hautnah, dass auch diese Marke allenfalls auf dem Papier steht. Das Hochdrehen des Schiffsmotors zählt zu den letzten Bastionen des machismo, und ehe nicht ein bedeutender Palazzo in den Fluten versinkt, wird sich an diesem Gehabe nur schwerlich etwas ändern. Also, beim nächsten Besuch von Harry's Dolci lieber einen Tisch in der zweiten Reihe nehmen. Der Blick auf Venedig ist auch von dort aus traumhaft schön.