Bevor Christina Wildgrube einziehen konnte in das "Fliegende Künstlerzimmer", musste für die Landung des Holzpavillons, das für zwei Jahre ihr Zuhause werden sollte, Erde ausgehoben werden. So war zuerst mal ein Berg entstanden auf dem Schulhof der Einhardschule im hessischen Seligenstadt. "Ich hatte sofort eine große Sympathie für diesen riesengroßen Maulwurfshügel", erzählt die Künstlerin. "Und dachte mir: Der muss eigentlich bleiben. Auf dem Schulhof war ja sonst alles so ordentlich."
Wie ist es, auf einem Schulhof zu landen wie auf einem fremden Planeten, und Kontakt mit denen aufzunehmen, für die es der Alltag ist? Wie macht man auf sich aufmerksam, wie definiert man diese Rolle, für die es keine Vorbilder und keinen konkreten Auftrag gibt?
Christina Wildgrube schickte gleich zu Anfang eine Nachricht an Schüler und Lehrer. Wer möge, komme bitte am nächsten Tag in einer einzigen Farbe gekleidet in die Schule. So kamen Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer ganz in Grün, Gelb oder Pink. Fast ohne Aufwand, sichtbar, und ganz neu miteinander verbunden. "Ein Bejahen", wie Christina Wildgrube sagt.
Ort der Verwirklichung gemeinsamer Projekte
Auch der Erdberg wurde einbezogen – interdisziplinär, wie bei fast jedem guten Ausstellungsprojekt. Der Mathe-Leistungskurs bekam den Auftrag, die Fläche des Hügels zu berechnen, und die Anzahl der zu setzenden Blumenzwiebeln. Eine Gruppe aus den 5. und 6. Klassen entwarf ein Motiv für eine Bepflanzung. Diese Zwiebeln wurden dann auch gemeinsam gesteckt. Gerade blühte alles.
Das "Fliegende Künstlerzimmer" hat die Aufgabe, in den ländlichen Regionen Hessens für die Schülerinnen und Schüler eine Anlaufstation zu sein. Um sich gemeinsam Projekte auszudenken und zu verwirklichen. Es geht darum, Jugendlichen beiläufig Input zu geben, den sie freiwillig annehmen. Und der doch viele genau da abholt, wo sie sich Gesellschaft wünschen würden. Zu wissen, was Kunst soll, was es ist und was es für den Einzelnen sein könnte, das ist ja abseits der Zentren keine Selbstverständlichkeit. An momentan sechs Schulen in Hessen leben "fliegende Künstler:innen", sind Teil des Geschehens sein, aber setzen auch einfach durch die Anwesenheit und Ansprechbarkeit Impulse.
"Ich mag an dem Projekt diese Vielfalt", sagt Christina Wildgrube. "Es geht gar nicht darum, dass die Kunst die Initiative ergreift. Es sind eigentlich alle Fächer." Wichtig sei dabei, sich eine Unvoreingenommenheit zu bewahren und bei sich zu bleiben.
Zuständigkeit erlernen und Selbstwirksamkeit erfahren
Auch ihre Kollegin Eva Funk in Lüdertalschule in Großenlüder ist in erster Linie jemand, der ermutigt und ermächtigt. Sie regt die Schülerinnen und Schüler dazu an, sich grundsätzlich zuständig zu fühlen für die Dinge, die sie umgeben. Im letzten Turnus gründeten sie das "Institut für Löffel und Speisen". Die Künstlerin macht auf diese Weise vor, wie man sich selbst mit etwas beauftragt und diese Sache dann auch ernst nimmt. Ein "Institut" – für die meisten Schüler ist das etwas Abstraktes, Erwachsenes. Aber selbst eines zu gründen und dem eigenen Tun Wichtigkeit geben, das können prägende Erfahrungen sein. Gerade wenn es um alltägliche Dinge wie einen Löffel geht, der plötzlich zu einem hochinteressanten Objekt werden kann, weil man sich ihm aus so vielen Richtungen nähern kann. Aus der anatomischen, weil er sich von der hohlen Hand ableitet. Aus der skulpturalen, wenn man ihn selbst herstellt. Und natürlich kann der Löffel unter dem Aspekt der Speisen betrachtet werden, die mit ihm gelöffelt werden.
"Diese Vernetzungen sind besonders wertvoll", sagt Eva Funk zur Herangehensweise der übergreifenden Perspektiven. Sie lassen sich im Grunde bestens auf den Schulbetrieb übertragen, wo es für alles Fachrichtungen gibt. "Wir wollen interdisziplinär in andere Fächer hineingehen, und sagen: 'Hey, in Physik guckt ihr euch gerade dieses und jenes an – in der Kunst gibt es etwas ganz Ähnliches!'"
Eva Funk lebt normalerweise in Berlin, wo sie an der Universität der Künste auch ihren Abschluss machte. Die Aufgabe an der Schule sieht sie als "Herausforderung und reines Abenteuer zugleich." Sie hat den Anspruch, die jungen Menschen vom Lernen ins Erleben zu bringen. Am besten durch ein Ereignis, das sie selbst hervorgebracht haben.
Gong - eine universelle Sprache
"Es ist mehr 'Kunst Plus'", beschreibt auch Christina Wildgrube ihren Ansatz, Nischen zu suchen und Möglichkeiten zu finden, über Fachgebietsgrenzen hinweg. Dass man mit Chemie zum Beispiel Fotos entwickeln kann, ist so eine Feststellung, die jetzt auch über die Zeit ihrer Präsenz an der Schule weiter verfolgt werden soll, als Unterrichtsangebot.
Eine Sache, die alle Schülerinnen, Schüler, alle "fliegenden Künstlerzimmer" gemeinsam hatten und haben, ist ein unerbittlicher Gegner – der Gong. Er zerteilt rücksichtslos den Tag, begrenzt, ist gnadenloser Rausschmeißer. "Wenn ich nur 45 Minuten habe, wie kann ich überhaupt ins Machen kommen?", fragt Eva Funk. Also machten sie ein Projekt zum Gong, das kürzlich in einer Ausstellung in Frankfurt zu hören war. In Workshops wurden neue individuelle Gong-Versionen vertont, eine universelle Sprache, die jeder versteht. Es seien, sagt Eva Funk, auch Worte in ihm versteckt. Etwa das englische "Go on".
Noch bis zum Sommer leben die beiden auf ihren Schulhöfen in ihren von den Architekten Michel Müller und Nikolaus Hirsch entworfenen Atelier- und Wohnkisten. Aber die vielen guten Ideen, die die beiden Künstlerinnen gepflanzt haben, werden bleiben. Der Erdhügel auch.