"Das Betreten der Skulptur erfolgt auf eigene Gefahr. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass die Tragfähigkeit der Bierkisten mit Gebrauch abnimmt." Vorsichtig kletterten erste Besucher hinauf, aber die Skulptur in der Halle der Berliner KW fühlte sich erstaunlich stabil an.
Zwölf Meter breit, acht Meter lang und vier Meter hoch war die Pyramide aus blauen Pappkartons, gefüllt mit 72.000 Bierflaschen der türkischen Marke Efes. Am 26. März 2011 wurde sie der Welt erstmals gezeigt, der Künstler selbst hatte sie schon kurz zuvor im fertigen Zustand gesehen. Von der Öffentlichkeit unbemerkt hatte die Chefkuratorin der KW, Susanne Pfeffer, tagelang Bierkisten in die große Halle bringen und akkurat aufschichten lassen. Auf den Stufen sitzend rissen die Besucher die Pappkartons auf, öffneten mit Feuerzeugen, mitgebrachten Flaschenöffnern oder einfach einer weiteren Flasche ein erstes Bier - und blieben.
"The Recovery of Discovery" von Cyprien Gaillard war wegen ihrer schieren Größe eine faszinierende Skulptur aus Kisten. Sie war aber auch ein historischer Verweis auf ihren Standort Berlin, Stadt des Pergamonmuseums, das wenige Minuten entfernt liegt. Der Pergamonaltar wurde einst aus der Türkei hergeholt. Jetzt war es das Bier in seinen Kisten, die auch schön blau waren. Doch die Pyramide funktionierte ohne die kunsthistorische Referenz. Sie war eine Einladung. Es war erlaubt, die Kunst zu betreten, auf ihr herumzuklettern, es gab die ausdrückliche Genehmigung, in den KW zu verweilen, Bier zu trinken und zu rauchen.
Die Reibung zwischen Welt und Körper
So war "The Revocery of Discovery“ völlig kohärent mit Gaillards bisherigem Oeuvre, das sich mit Monumenten, ihren Zeichensystemen und ihrem Verfall beschäftigt. Gleichzeitig ging es aber, und auch das spielt bei ihm eine Rolle, um das Erleben, einen gewissen jugendlichen Leichtsinn, die Reibung zwischen Welt und Körper, um die Übertretung.
Der Eröffnungsabend war in den besten Momenten so überfüllt, dass die Besucher das Kunstwerk vollkommen bedeckten wie Termiten oder Bienen. Bier- und Lautstärkepegel stiegen stetig an. 3000 Besucher waren gekommen und schienen nicht mehr gehen zu wollen. Um zwei Uhr nachts hätte Schluss sein sollen, es wurde halb vier. Und die meisten kamen wieder, bis zum 22. Mai um 19 Uhr die Ausstellung geschlossen wurde.
Der Bierbestand war kontinuierich geschrumpft, die leeren Flaschen hatten sich wie ein ganz eigenes Material an den Wänden entlang über die Gänge ausgebreitet. Auch der Geruch nach schalem Bier und altem Rauch hatte seine ganz eigene Stofflichkeit. Irgendwann war eine schriftliche Einwilligung vonnöten, hier konnte keiner mehr die Verantwortung übernehmen. Die Leute kamen trotzdem weiterhin. Allein die felsenartige Sitzgelegenheit reizte, die Lust am Verschwinden, auch am Verschwindenlassen. Wer die Flasche geleert hatte, brauchte nur irgendwo unter sich zu greifen. Instabilität als Kausalkonsequenz.
Bröckelnde Kanten wie in Gizeh
Cyprien Gaillard hat hier vor zehn Jahren ein sehr vielschichtiges Bild geschaffen, das zugleich ganz einfach war. Wer darin missgünstig eine Allegorie auf das von Kunst, Freibier und zu viel Zeit zusammengehaltene kreative Berlin sehen wollte, bitteschön. Die meisten sahen die geniale Verdichtung von Teilhabe, Performance, Skulptur, Miteinander, Feier des Augenblicks.
Ich erinnere mich an die irgendwann nachgiebig werdenden Kisten, an die wie in Gizeh bröckelnden Kanten, an die Umschichtung von klaren Formen zu entropischen Leergutmassen. Am Schluss war die Pyramide eine Ruine, aber sie stand immer noch. Vor allem aber denke ich immer wieder an einen Moment, als der Künstler Cyprien Gaillard vor der Eröffnung, nur von seiner Galeristin Philomene Magers begleitet, vor diesem Monument stand und es anschaute. Total konzentriert, aber auch bewegt.
Ich dachte dann an George Mallory, der den Mount Everest als Erster besteigen wollte. Als man ihn fragte, warum er so etwas Verrücktes vorhabe, sagte er: "Weil er da ist". Wie Cyprien Gaillard seinen Berg ansah, den er gemacht hatte, damit er da ist, bleibt für mich als Erinnerung ein Monument für alle Kunst.