Die Figur des Flaneurs (ein weibliches Pendant gibt es aus verschiedenen Gründen nicht) gehört zu den meistbeschriebenen Phänomenen der jüngeren europäischen Kulturgeschichte. Und man kommt noch immer nicht um diesen Typus herum, wenn man über das Verhältnis von Körpern zu ihrer Umgebung nachdenken will. Nachzudenken gibt es zu diesem Thema jedenfalls gerade einiges. Das Herumstreifen in Städten bedeutet normalerweise, dass man mit der Umgebung in Verbindung tritt und sich öffnet für die Erzählungen und Geschichten eines Ortes. Wer sich im urbanen Raum bewegt, so schrieb beispielsweise der Philosoph Michel de Certeau, liest die Stadt und schreibt sie gleichzeitig mit.
Im vergangenen Corona-Jahr haben die meisten Menschen wohl mehr Zeit im öffentlichen Raum verbracht als jemals zuvor - zumindest diejenigen, die über keine ausladenden Gärten oder Dachterrassen verfügen. Der Lockdown verdammt zum Spazieren an der frischen Luft, aber vom Flanieren kann keine Rede sein, wenn man sich unwillkommen fühlt. Die Kommunikation zwischen Mensch und Stadt funktioniert nicht mehr, als würde die Umgebung plötzlich eine Sprache sprechen, die man nicht versteht. Die Botschaften an den Häuserfassaden (Kino! Theater! Genuss! Spaß! Hereinspaziert!) sind leere Versprechen. Plätze, die für Menschenmengen gebaut sind, werden ziemlich unwirtlich, wenn man sich in pandemie-konformer Kleinstgruppe darauf bewegt (und trotzdem überall LKW-Terrorsperren um sich herum hat). An den allermeisten Schaufenstern werden potenzielle Kundinnen und Kunden aus dem physischen Stadtraum direkt in den Onlineshop weggewünscht.
"Was würde Walter Benjamin dazu sagen?" ist in der Kunst gerade eine beliebte Frage, wenn es um den Hype um digitale Kunstwerke geht, die als zertifizierte NFTs einen explodierenden Marktwert, in ihrer Pixeligkeit aber eine, sagen wir begrenzte Aura besitzen. Aber auch zum Thema öffentlicher Raum würde man den Autor der Flaneurbibel "Das Passagenwerk" gerade gern befragen. Für Benjamin war das zeitdrucklose Spazieren auch ein Akt des Widerstands, ein stoisches Anschleichen gegen das Tempo der modernen Stadt. Doch gegen die Zwangsentschleunigung des Lockdowns lässt sich nicht anlaufen. Der öffentliche Raum ist in der Corona-Krise eine ziemliche Enttäuschung. Das soll nicht heißen, dass die Maßnahmen nicht nötig sind. Es soll heißen, dass der Stadtraum bei weitem nicht der gut belüftete Zufluchtsort ist, der er hätte sein können.
Absurde Gegensätze zwischen Leere und Enge
Im Lockdown wird besonders deutlich, dass Innenstädte vor allem auf Konsum ausgelegt sind. Man erkauft sich den Aufenthalt in den Citys und Fußgängerzonen durch Kaffeetrinken, Eisessen oder Klamottenshoppen. Als diese urbane Übereinkunft durch die Pandemie aufgekündigt wurde, führte das zu absurden Gegensätzen. Riesige Geschäftsflächen und Hoteletagen standen leer und tun es größtenteils noch immer, während sich Familien in viel zu kleinen Wohnungen drängen. Nach der Verhängung des ersten Lockdowns vor genau einem Jahr dauerte es einige Zeit, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass der eifrig geteilte Hashtag #staythefuckhome schwierig zu befolgen ist, wenn man ein zu kleines zu Hause hat, oder eins, in dem man sich nicht sicher fühlt. Oder gar keins.
Wenn es im vergangenen Corona-Jahr um Innenstädte ging, wurde meistens darüber diskutiert, wie sich der stationäre Einzelhandel retten lässt - also im Grunde genommen, wie sich die Konsumübereinkunft mit dem Publikum wieder etablieren kann. Die Frage stellt sich natürlich - überdeckte aber in der Lockdown-Zeit die Tatsache, dass es vielerorts nicht einmal möglich war, kostenlose öffentliche Toiletten zu finden, oder einen Trinkbrunnen, oder im Winter eine geschützte Sitzgelegenheit für die, die sich coronakonform verhalten wollen (wenn nicht gerade Verweilverbot herrschte), aber vielleicht nicht mehr so gut zu Fuß sind.
Das Gefühl, dass im öffentlichen Raum eine fremde Sprache gesprochen wird, kommt auch daher, dass die Plakatierung um uns herum ständig an die Widersprüche des vergangenen Jahres erinnert. Immer noch kündigen wettergegerbte Poster Konzerte, Messen und Parties an, die nie stattgefunden haben - oder Events in der Zukunft, deren Veranstaltungsdaten spekulative Fiktion sind. Anderswo bleiben Ankündigungsflächen blank und wirken wie die materialisierte Resignation der Eventbranche. Eine komplett leere Litfaßsäule, die gar nichts zu sagen hat, ist derzeit vielleicht das wirkungsvollste Lockdown-Mahnmal. Ansonsten verkündet die Werbung unbeeindruckt, was der Mensch in der Pandemie alles so braucht: Schokolade, Riesenbildschirme, Jogginghosen für die Couch und den Home Sport, jede erdenkliche Ware nach Hause geliefert, Online-Nachhilfe, Anwälte. Auch die Solidaritäts-PR hat weiter Konjunktur. "Nie wieder werde ich vergessen, wie viel stärker wir miteinander sind", verkünden ergriffen die Cola-Plakate.
Als hätte jeder ein kleines Schloss irgendwo
Und dann sind da natürlich noch die Plakate der Bundesregierung, die immer noch euphorisch "Wir lassen uns impfen, aber Oma zuerst!" verkünden (womit genau? wann genau?), den schon immer etwas albernen "AHA"-Slogan skandieren (wofür stand gleich das zweite A?) oder Passanten im sowieso schon verengten und reglementierten öffentlichen Raum weiter disziplinieren sollen. "Meine Disziplin ist unsere beste Medizin!" heißt es auf der aktuellen Plakatkampagne der Bundesgesundheitsministerium. Dazu ist ein ziemlich ausladendes Haus-Emoji abgebildet, als hätte jeder ein kleines Schloss irgendwo, in das man sich jederzeit bequem zurückziehen könnte.
In dieser eher frustrierenden Straßenlandschaft stechen derzeit in mehreren Städten pastellige Bilder hervor, auf denen nichts angepriesen wird. Darauf steht einfach nur "Es ist okay", dazu Fotos von einer Hand, die ein Körnerbrötchen als Maus benutzt oder einem Fuß, der in einem Hausschlappen aus einem Netz Rosenkohl steckt. Dahinter verbirgt sich ein Kollektiv um die Designerin Lisa Gumprich, die mit der Fotokampagne nach eigener Aussage darauf aufmerksam machen will, dass es in Ordnung ist, wenn man während einer globalen Krise mal nicht perfekt funktioniert. Das Ganze sieht ziemlich glossy und perfekt aus, und man könnte auf die Idee kommen, dass zu den größten Problemen, die Menschen gerade haben, ein Business-Look ohne Hose oder Ferien auf Balkonien gehören. Kontakte zu Hilfsangeboten für Menschen, denen es schlecht geht, gibt es auch nicht. Aber allein die Anerkennung, dass es okay sein könnte, wenn gerade nicht alles geordnet und diszipliniert läuft, ist in diesem Frühjahr außergewöhnlich.
Um nicht ganz dem Frust über die verpassten Chancen des Draußenseins zu verfallen, sei gesagt, dass es durchaus Lichtblicke gibt - und zwar buchstäblich. Viele der Aktionen, die ein wenig Leben in tote Städte bringen, kommen aus der gebeutelten Kulturszene. Kinos leuchten, Galerien bespielen ihre Schaufenster, Museen lassen Kunstwerke in die Stadt hineinragen. Auch wenn sie geschlossen sind, müssen Gebäude nicht verrammelt aussehen: Das merken wir uns hoffentlich für die Zeit, wenn eine ernsthafte Debatte um die Zukunft der Städte und ihre Lebensqualität beginnt. Auch wenn nicht gleich alle zu Flaneuren werden müssen - ein öffentlicher Raum, in dem sich Menschen (auch mit Abstand) willkommen fühlen, ist schließlich auch eine Art Medizin.