Die Idee eines Matriarchats wäre, dass dort die Frauen und Mütter regieren, vielleicht sogar eine Göttin waltet, je nach Auslegung. Zeitgenössische Kunstwerke sehnen das immer mal wieder als eine Utopie herbei, in der die Fürsorge an erster Stelle steht. Dabei kann in einem solchen Matriarchat einiges schiefgehen, wie sich in München gezeigt hat. Hier nahm die weibliche Vorherrschaft besonders martialische Züge an. Das Kollektiv Molestia (lateinisch für "Belästigung" oder "Ärgernis") ist seit 2017 die erste weibliche Burschenschaft der Stadt und rief sogleich einen faschistisch anmutenden Staat namens "Klitoria" aus. 2019 wurde die Gruppe mit ihren provokanten Performances bekannt, die sie mittlerweile bereut.
Die weiblichen Burschen von Molestia, zu denen Autorinnen und Schauspielerinnen gehören, trieben ihre Nachahmung der männlichen Studentenverbindungen auf die Spitze. Wie diese hatten sie ein eigenes Wappentier, trugen schwarz-weiße Festkleidung, traten anonym unter Kneipnamen auf und wirkten auch ansonsten sehr uniform. Sexistische Vorurteile über Frauen wendeten sie umgekehrt auf Männer an, drohten mit Kastration oder Vatermord. Darüber hinaus marschierten die Bürgerinnen von Klitoria mit Fackeln durch die Innenstadt und salutierten an geschichtsträchtigen Orten mit "Heil Molestia!" – alles gefördert mit Geldern des Münchner Kulturreferats. Obwohl Molestia sich ebenfalls die Pressefeindlichkeit der echten Burschenschaften zu eigen gemacht hatten ("Alles nur Fake News!"), kamen Journalisten und Journalistinnen immer zu dem gleichen Schluss: Erst lösten die Performances zwar ein mulmiges Gefühl in der Magengrube aus, danach fand man die dreiste Kompromisslosigkeit total erfrischend.
Mittlerweile gibt es im Reich Klitoria eine Staatskrise, die nun doch nach Kompromissen verlangt. Die Gruppe gesteht in einem Schreiben ihr bisheriges Versagen ein und will am kommenden Sonntag am Münchner Gärtnerplatz Wiedergutmachung leisten. Dieser Sinneswandel erfolgt weder aus Nachsicht mit den echten Burschenschaften, noch aus Rücksicht auf Passanten in der Innenstadt. Ausschlaggebend war nur die Kritik, die von lateinamerikanischen Künstlerinnen kam.
Nebeneinander von Moralismus und Tabubruch
"Molestia haben in aller Öffentlichkeit eine weiße Gewalt und Ausgrenzung reproduziert, ohne das zu wollen", sagt etwa Maricarmen Gutiérrez vom Kollektiv Sonqo Ruro. Die Bilder und Videos der uniformierten Aufmärsche ängstigen sie, wenn sie sich das heute anschaue. Ähnlich ergehe es anderen People of Color während solcher Machtdemonstrationen. Gutiérrez wird am Sonntag in München sein, um eine Delegierte aus Lateinamerika zu spielen, die koloniales Raubgut von Molestia ausgehändigt bekommt. Was das sein würde, war lange geheim. Der "Handknochen" einer indigenen Frau, der in der Performance zurückgegeben wird, besteht in Wahrheit aus Lehm und soll dann vor den Augen des Publikums in Wasser aufgelöst werden.
Dazu muss man wissen, dass bei Molestia – außer dem Nebeneinander von Moralismus und Tabubruch – auch immer Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. Diesem Spiel bleiben sie weiterhin treu. Die reale Person der Prinzessin Therese von Bayern (1850-1925) hatten sie zu ihrer fiktiven Gründerin auserkoren und sich so gleich 150 Jahre Vereinsgeschichte erschlichen, die es nie gab. 2019 überklebten Molestia noch Straßenschilder in München mit einem neuen "Therese-von-Bayern-Platz". Wie sehr ihre Aktionskunst letztlich im Geist von Therese von Bayern stand, nämlich dem Geist eines ausschließlich weißen Feminismus, ahnten sie damals gar nicht. Heute müssten sie eigentlich das eigene Straßenschild wieder abnehmen, wenn es dort noch hinge. Die Gründerin ist in Ungnade gefallen.
Einerseits war Prinzessin Therese eine Feministin: aus Prinzip unverheiratet, wurde sie eine anerkannte Wissenschaftlerin, die sich für die Bildung anderer Frauen engagierte, nachdem sie alles im Selbststudium gelernt hatte. So brillant sie als Zoologin neue Fischarten beschrieb, so stümperhaft ging sie als Ethnologin mit vermeintlich neuen Menschenrassen in Kolumbien, Peru oder Mexiko um, sammelte deren Kulturartefakte und sterbliche Überreste. Dass Thereses geraubte Kuriositäten heute in verschiedenen Münchner Museen liegen, ist wahr. Der Handknochen aus Thereses Nachlass, den das Kollektiv Sonqo Ruro erhalten soll, ist hingegen rein symbolisch.
Ab jetzt gewaltfreier Spaß
"Ich will die Verhaltensmuster von Molestia für sie brechen. Ich denke, das ist notwendig. Ich freue mich darauf, ihnen ihre guten Vorsätze glauben zu können", sagt Manuela Illera vom zweiten Kollektiv Cosmica Bandida. Sie wird am Sonntag für die akustische Untermalung zuständig sein. Die Marschmusik und der Walzer gehören bei Molestia jetzt wohl der Vergangenheit an, stattdessen spielt Illera auf Trommeln die Cumbia und hybridisiert sie mit anderen lateinamerikanischen Rhythmen.
Wer insgeheim eine Anhängerin oder ein Anhänger der ehemaligen Molestia und ihrer Tabubrüche war, könnte sich am Sonntag trotzdem gut amüsieren. "Wir mussten ja auch in der Sprache der Satire auf das bisherige Programm antworten", sagt Maricarmen Gutiérrez. Sie verspricht, dass es bei Molestia ab jetzt gewaltfreien Spaß, aber weiterhin viel Spaß geben werde. "Die Rückgabe-Zeremonie wird ein Albtraum für weiße Menschen. So ein Traum, in dem dich die Geister holen kommen, und aus dem man hochschreckt und sagt, ich tu’s nie wieder", sagt sie.