Ein TikTok-Video zeigt eine Aufnahme von Britney Spears bei einer ihrer Shows. Vielleicht ist es Vegas, vielleicht aber auch Paris oder New York. Nach einigen Sekunden wird eine Textzeile in das Bild eingeblendet: "OMG, this is Britneys Real Voice on Tape!" Im nächsten Augenblick bricht die Musikspur zusammen, und man hört verzogenen, eigenartig leiernd klingenden Gesang ohne Playback.
Der erste Impuls, den ich habe, ist es, mein Handy wegzuwerfen. Ich verabscheue dieses Video. Ich verstehe nicht, was es mir sagen will. Dass das Britney echte Stimme ist? Dass sie vielleicht in Wahrheit gar nicht singen kann? Dass ich betrogen worden bin?
Ich denke öfter, dass das Publikum in einem Strip Club ehrlicher ist als der Rest der Menschen. Denn sie behaupten nicht, dass ihr Blick auf den Körper an der Stange etwas anderes wäre als eben genau das. Der starrende, verschlingende Blick eines Zuschauers.
"Pop-Queen lügt!"
Britney Spears Memoir "The Woman in Me", das von den Medien bereits große Aufmerksamkeit erfahren hat (im Besonderen bezüglich der "Vorwürfe" die das Buch der Familie Spears macht) beginnt folgendermaßen:
"Als kleines Mädchen streunte ich oft stundenlang singend durch den stillen Wald hinter unserem Haus in Louisiana. Hier draußen fühlte ich mich lebendig und mutig. Während meiner Kindheit stritten sich meine Mutter und mein Vater ständig. Er war Alkoholiker. Zuhause hatte ich meistens Angst. Draußen zu sein war zwar auch nicht unbedingt himmlisch, aber hier war meine Welt. Himmel oder Hölle, sie gehörte mir allein. Bevor ich wieder heimging, nahm ich den Weg zum Haus unserer Nachbarn, der an einem Swimmingpool vorbei durch einen gepflegten Garten führte. Dort gab es einen Steingarten mit kleinen, glatten Kieseln, welche die Hitze einfingen und auf eine Art warm blieben, die sich auf meiner Haut ganz wunderbar anfühlte. Ich legte mich auf die Steine, sah zum Himmel empor und spürte die Wärme von unten wie von oben. Dabei dachte ich: Ich kann meinen eigenen Lebensweg gehen. Ich kann meine Träume verwirklichen. Still auf diesen Steinen liegend fühlte ich mich Gott ganz nahe."
Weil ich zugestimmt habe, einen Text zu dem Buch zu schreiben, recherchiere ich. Ich öffne meinen Newsflash und erste Zeile lautet: "Nach schweren Vorwürfen an die Familie: Pop-Queen lügt!"
Was, wenn ich einfach entscheiden würde, dass es wahr ist?
Mir wird auch gleich danach ein Twitter-Beitrag angezeigt. Eine Hochschullehrerin aus Kansas schreibt: "I'm not buying into an industry selling me this fake innocence thing like that again!" Und dann ein anderes TikTok-Video, in dem ein Mädchen, in ihre Kissen vergraben, in die Kamera fragt: "Findet Ihr auch, dass etwas an Britney Spears Buch seltsam ist?" Unter dem Video sind 500.000 Kommentare.
Vielleicht ist dies der Augenblick, in dem ich verstehe, dass ich keine Review über dieses Buch schreiben will. Ich kann nicht. Wie könnte ich über all diese Dinge urteilen, wenn ich doch nichts bin, als das: eine Konsumentin. Eine Zuschauerin.
Ein paar Seiten nach dem Prolog steht:
"Wenn ich singe, bin ich ganz bei mir. Ich kann unverfälscht kommunizieren."
Was wäre, denke ich, wenn ich deshalb einfach entscheiden würde, dass das, was hier steht, wahr ist? Darf ich – als Zuschauerin – so etwas überhaupt annehmen? Dass dies eine Szene der Unschuld sein könnte?
Einen Jungen zu küssen, ist ein Verbrechen
Ob jemand unschuldig ist, lässt sich ja nicht so leicht feststellen. Die Intaktheit des Jungfernhäutchens zu überprüfen, kommt dafür in Frage. Unversehrtheit und Natürlichkeit müssten nachgewiesen werden. Jung zu sein, wäre gut. Aber nicht zu jung. Und auf keinen Fall zu alt. Man will auch unter keinen Umständen aussehen, als wäre man unecht. Ja, hätte man einen Bankraub begangen, man täte ja überaus schlecht daran, mit Schlauchbootlippen aufzukreuzen.
Was ein Verbrechen ist, ist dafür leichter zu sagen. In Louisiana ist es zum Beispiel ein Verbrechen gegen die eigenen Eltern, einen Jungen zu küssen.
"Der Altersunterschied zwischen diesem Jungen und mir war natürlich gewaltig – heute kommt einem das ungeheuerlich vor – und deshalb begann mein Bruder, der immer sehr behütend war, ihn zu hassen. Als Bryan mich dabei erwischte, wie ich mich rausschlich, um meinen Freund zu besuchen, verpetzte er mich bei unseren Eltern. Zur Strafe musste ich den ganzen Tag mit einem Eimer in der Nachbarschaft herumlaufen und Müll aufsammeln wie ein Sträfling auf dem Highway. Bryan folgte mir und fotografierte mich dabei, wie ich weinend Müll aufklaubte."
Keine zuverlässige Erzählerin
Das Rauchen (eines Mädchens) ist in Louisiana auch so kriminell, dass man dafür das Leben aufs Spiel setzen kann. Aber das schlimmste Verbrechen – und das gilt nicht nur für Louisiana – ist es, schön und begehrenswert zu sein, wenn man es dabei auch noch mag, angesehen zu werden. DAS ist sogar ein solches Kapitalverbrechen, dass einem gedroht wird, erschossen zu werden. Und wenn etwas daran unglaubwürdig klingt, dann liegt das mit Sicherheit daran, dass das Mädchen keine zuverlässige Erzählerin ist.
"Jahrelang hatte ich das Antidepressivum Prozac genommen, aber im Krankenhaus setzten sie es auf einen Schlag ab und gaben mir stattdessen Lithium, ein gefährliches Suchtmittel, das ich weder einnehmen wollte noch brauchte und das einen extrem träge macht. Mein Zeitgefühl veränderte sich, und ich war richtig desorientiert. Unter dem Einfluss von Lithium wusste ich manchmal nicht mal mehr, wo ich war oder wer ich war. Mein Gehirn funktionierte nicht mehr normal. Dabei war mir sehr wohl bewusst, dass meiner Großmutter Jean in Mandeville Lithium verschrieben worden war, kurz bevor sie sich das Leben nahm. Unterdessen behandelte mich mein Security-Team, das ja schon lange bei mir war, als wäre ich eine Verbrecherin. Wenn ich eine Blutprobe abgeben sollte, wurde der Arzthelfer, der mir Blut abnahm, von einer Krankenschwester, einem Leibwächter und meiner Assistentin begleitet."
Ich muss an einen Textauszug von Chrysostomus denken, der von einer Sünderin erzählt, die von einem öffentlichen Gericht auf einen Platz in der Stadt beordert wird. Nachdem das Mädchen ihr Geständnis vor der gesamten Stadt abgelegt hat, wird sie aber von dem Gericht nicht etwa getötet oder bestraft.
Die ganze Stadt von Tränen überflutet
Ich weiß nicht, ob es eine Erfindung des Autors ist, oder ob die Wirklichkeit und die Erfindung in diesem Bericht ineinander übergehen, aber in der Szene geschieht folgendes: Das Mädchen beginnt zu weinen. Und in dem Moment, in dem die Zuschauer die Tränen in ihren Augen erblicken, beginnen sie selbst zu weinen. Bis die ganze Stadt von ihnen überflutet ist.
Dass ein Mädchen seine Erfüllung nicht als nachvollziehbare Person finden könnte. Als Tochter. Als Freundin. Sondern, dass sie es in ihrem Geheimnis tun könnte. Dass sie vielleicht sogar nicht wollen würde, dass jeder weiß, was sie ist. Dass sie dies nur in dieser besonderen Beziehung zu sich sein könnte. Dass diese Beziehung öffentlich wäre, erscheint offensichtlich vollkommen unglaubwürdig.
Stattdessen wird man das Begehren eines solchen Mädchens so lange bestrafen, bis es selbst davon überzeugt ist, dass seine Unschuld nur gespielt war. Und das ist gut, denn so wird es die eigene Unschuld immer weiter behaupten müssen. Und gerade deshalb, wird man ihr noch weniger glauben. Also wird sie den Vorwurf der Lüge in sich aufnehmen. Und sich wieder und wieder entschuldigen, für all die Dinge, die ihr widerfahren sind.
Die Verkörperung eines milliardenschweren Erotizismus
Ich weiß, wie öffentlich eine solche Beziehung sein kann. Weil ich selbst einen Teil von all dem besitze. Mein zwölfjähriges Begehren hat diesen Körper gefressen.
"OMG – presumably psychologically ill writer girl from Monopol said she ate Britney.“
Aber eine Geschichte, die von dem Begehren eines Mädchens handelt, bleibt, selbst für mich, das Unglaubwürdigste, was es zu erzählen gibt. Und dass der unwahrscheinliche Fall eingetreten sein könnte, dass dieses Begehren mittels einer industriellen Machinerie totalisiert werden konnte. Dass dieses Mädchen vielleicht sogar selbst weiß, dass sich in ihr etwas artikuliert, das über sie hinausgeht. Und dass eine widersprüchliche Existenz als menschlicher Sack voller Emotionen und Schmerz, der zur gleichen Zeit die Verkörperung eines milliardenschweren Erotizismus sein kann – das ist nicht nicht furchterregend erfunden oder wahr – sondern beides zugleich.