Düstere Aussichten hält das Weltgeschehen bereit. Aber Träumen geht ja immer. Insofern ist der Goldene Bär für das Coming-of-Age-Drama "Drømmer" folgerichtig, geschrieben und inszeniert vom Norweger Dag Johan Haugerud.
Die Träumerin seines Films ist die 17-jährige Johanne (Ella Øverbye), die heimlich in ihre Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) verliebt ist und sich privat mit der Angehimmelten trifft, die 15 Jahre älter ist als sie. Johanna gibt ihrer Schülerin Strickunterricht, von ihrer Verliebtheit erfährt sie nichts. Da Johanne sich ihre Gefühle in einer Art Roman von der Seele schreibt, bekommen aber ihre Großmutter Karin (Anne Marit Jacobsen) und ihre Mutter Kristin (Ane Dahl Torp) Wind von der Angelegenheit.
Aber wie faktenbasiert und wie träumerisch ist so ein Text? Die Älteren schwanken zwischen Verständnis für die Heranwachsende und Missbrauchsverdacht gegenüber der Lehrerin. Außerdem bringt der Liebestaumel von Johanne auch die Gefühle ihrer Mutter und ihrer Oma in Unordnung. Sehnsucht, Liebe, Erotik: Da war doch was. Wäre da mehr drin gewesen?
"Flashdance" als feministischer Gradmesser
Letztlich ist "Drømmer" ein generationsübergreifender Film über Vorstellungswelten und Realzustände – und deren Auseinanderklaffen. Johanne, die die Liebe entdeckt, ist sich zeitweilig selbst fremd. Federleicht erzählt Haugerud auch von den Grenzen der Kommunizierbarkeit von Gefühlen und Ansichten. Sehr witzig der Disput von Kristin und Karin über den 40 Jahre alten Kino-Hit "Flashdance", den sich die beiden in den 1980ern gemeinsam anschauten: Die Tochter – "What a feeling" – war beseelt, die Mutter entsetzt (über das vermeintlich reaktionäre Frauenbild).
Während die meisten geübten Festivalbesucher "Drømmer" (zu wenig "politisch" für die Berlinale) nicht wirklich auf dem Schirm für den Hauptpreis hatten, überrascht der Große Preis der Jury für "O último azul" kein bisschen: Ein starker Film über den Aufbruch einer alten Brasilianerin zu neuen Ufern.
Und noch ein südamerikanisches Roadmovie (wenn man Gabriel Mascaros am Amazonas siedelnden Film so nennen darf) wurde ausgezeichnet. In "El mensaje" ("Die Nachricht") ist ein Trio unterwegs auf den staubigen Straßen in der argentinischen Provinz. Myriam (Mara Bestelli) und Roger (Marcelo Subiotto) nutzen als Pflegeeltern der kleinen Anika (Anika Bootz) deren angebliche Gabe, mit Tieren zu kommunizieren, gewinnbringend aus. Die Message: Anikas Begabung mag Mumpitz sein, ihre Hinwendung zu Tier wie Mensch ist echt.
Die Story um den Wert der Unschuld wirkt aber am Ende unausgereift, sodass dieser Silberne Bär (aus dem Alfred-Bauer-Preis, dessen Pate ins Nazi-Zwielicht geriet, wurde der "Preis der Jury") zu den Überraschungen zählt. Keine großen Chancen wurden auch dem schwermütigen, aber auch schwergängigen "La Tour de Glace" von Lucile Hadžihalilović eingeräumt. Nun wurde aber das "kreative Ensemble" des modernen Märchenfilms (Marion Cotillard als Schneekönigin und zugleich ihre Filmdarstellerin) mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Atmosphärische Dichte kann man dem "Eisturm" nicht absprechen, insofern ist die Auszeichnung nachvollziehbar.
Der Silberne Bär für die beste Regie geht an Huo Meng, der mit "Sheng xi zhi di" ("Living the Land") die Geschichte einer chinesischen Großfamilie im Jahr 1991 aus dem Blickwinkel eines Jungen erzählt. Ein wirklich souverän inszenierter Film über Menschen in der Provinz, die mit jahrtausendealten Glaubenssätzen, Traditionen, Ehrenkodizes und Pflichten ringen.
Sicher schien auch ein Preis für den Wettbewerbsfilm "Kontinental ´25", der die Scham einer Gerichtsvollzieherin, die ungewollt den Freitod eines Obdachlosen mitverschuldet, mit einem Rumänien verknüpft, das von Immobilienspekulation verschandelt wird. Regisseur und Autor Radu Jude hat den Silbernen Bären für sein Drehbuch bekommen – zu Recht.
Nur wenig Gelegenheit zu brillieren
Einer der Schauspiel-Preise gibt Rätsel auf: Warum wurde statt dem in Richard Linklaters "Blue Moon" grandiosen Ethan Hawke (als abgehalfterter Songwriter Lorenz Hart) der Nebendarsteller Andrew Scott ausgezeichnet? Sein kleiner Part ist der des früheren Partners von Hart, der Komponist Richard Rodgers. Nichts gegen Scott, der ein toller Schauspieler ist, hier aber nur wenig Gelegenheit hat zu brillieren. Ganz im Gegenteil zur US-Schauspielerin Rose Byrne, die in ihrer Rolle einer überfordert-wahnhaften Mutter das mit fantastischen Elementen durchsetzte Filmdrama "If I Had Legs I‘d Kick You" von Mary Bronstein trägt.
Es war überhaupt eine Berlinale der eindringlichen weiblichen Figuren. Vielleicht kein Wunder, denn erstmals hat mit Tricia Tuttle eine Frau das größte deutsche Festival geleitet. "Die Hauptfiguren sind fast immer weiblich", schreibt Katja Nicodemus in der "Zeit", "was sie verbindet, ist eine unberechenbare Energie, die sie durch die Bilder treibt, rastlos, ratlos, widerständig, angriffslustig".
Was die Festivaldirektorin angeht: In den kommenden Festivaljahren darf sie gern noch etwas mehr Konfrontation wagen – vor allem hinsichtlich der filmischen Form. "If I Had Legs I‘d Kick You" war in seiner Rasanz und den klug dosierten Genre-Einsprengseln (das monumentale Loch in der Zimmerdecke!) richtungsweisend, ebenso Hélène Cattets und Bruno Forzanis "Reflet dans un diamant mort", der die James-Bond-Reihe plünderte, ihre Spannungsdramaturgie ad absurdum führte und gleichzeitig auf formal kühne Weise die misogynen und rassistischen Tendenzen des Macho-Kinos freilegte.
Dass "Reflet" bei der Preisverleihung leer ausging, dieses typische Berlinale-Schicksal teilt er mit anderen überzeugenden Wettbewerbsfilmen. "Dreams" von Michel Franco zum Beispiel, "Ari" von Léonor Serraile oder dem Dokumentarfilm über die Situation ukrainischer Schulen unter russischem Bombardement "Strichka Chasu" ("Timestamp") von Kateryna Gornostai, die während des Festivals in Berlin ein Baby zur Welt brachte.
Dazu kommen starke Debütfilme aus der neuen, von Tuttle kuratierten Reihe "Perspectives": Werke zum Träumen. Von einer besseren Welt. Man sollte die Kraft des Kinos nicht unterschätzen.