Wann immer jemand sagen möchte, dass es in der Leipziger Baumwollspinnerei exzellente Galerien und namhafte Künstlerateliers gibt, zitiert er diese eine Schlagzeile aus dem Jahr 2007. "The hottest Place on Earth" wurde die Spinnerei da einmal von der Zeitung "The Guardian" genannt. Das war das abgewandelte Zitat eines MoMA-Kurators gewesen. 2007 entdeckten gerade ein paar wichtige Sammler die Neue Leipziger Schule für sich, heizten den Verkaufspreisen ein und spazierten über die schönen Pflastersteine der Spinnerei – mit dem Duft von Maschinenöl in der Nase, den man dort bis heute wahrnehmen kann.
Die postindustrielle Architektur der ehemaligen Textilfabrik trug entscheidend zu dem Erfolg des Geländes bei. Immerhin verband sich ihre Atmosphäre so gut mit der Melancholie der gezeigten Leipziger Maler. Bis zum Jahr 1989 wurden hier enorme Mengen an Baumwolle versponnen oder verwebt. Die Belegschaft war zu 80 Prozent weiblich und schuftete bei hohen Temperaturen und schlechten Arbeitsbedingungen. In der Vorweihnachtszeit gab es nicht bloß Nacht-, sondern auch Sonntagsschichten, wie ein Zeitungsartikel aus den 1950er-Jahren dokumentiert.
Eine ehemalige Spinnerin spricht rückblickend sogar von "Sklavenarbeit". Die Hitze des Maschinenraums führte dazu, dass manche Spinnerinnen nur Unterwäsche unter ihren Kittelschürzen tragen konnten. Alle Spinnerinnen waren in Leipzig als besonders freizügige, derbe Weiber verrufen. Bis auf das Vorurteil ist heute nur noch wenig über sie bekannt.
"Sie hätten die Direktorinnen von heute sein müssen"
Diese kollektive Gedächtnislücke prangert jetzt ein großes Banner der Leipziger Fotografin Ramona Schacht an, das in bester Lage am Gebäude von Spinnerei-Chef Bertram Schultze hängt. "Hier haben 3200 Frauen gearbeitet. Sie hätten die Direktorinnen von heute sein müssen", steht darauf neben zwei Fotoarbeiten, die die Arbeiterinnen zeigen.
Schacht zitiert damit den Glaubenssatz der DDR, dass in einem Staat ohne Geschlechter- oder Klassenhierarchie auch die einfache Arbeiterin zur Direktorin aufsteigen könne. Das Versprechen wurde gleich doppelt gebrochen. Bis in die 1980er-Jahre warteten die angestellten Frauen vergeblich auf ihren Aufstieg. 1992 standen sie nach der Treuhand-Abwicklung und ihrer Entlassung vor dem Nichts. "Wie kann es sein, dass die jüngste Betriebsgeschichte der Spinnerei ausgelöscht wurde und es dort nicht mal ein Denkmal für diese Frauen gibt?", fragt Schacht.
Für die nächsten Monate kann zumindest Ramona Schachts Banner als Denkmal dienen. Darüber hinaus zeigt sie auf einem Posterdruck in ähnlichem Stil ukrainische Textilarbeiterinnen, die solidarisch beieinander eingehakt sind. Kiew war einst das Zentrum der sowjetischen Textilproduktion gewesen. Der Großteil der Leipziger Wolle stammte aus Kiew, und es kamen Delegationen von ukrainischen Arbeiterinnen als Vorbilder zu Besuch; etwa eine Weberin, die für ihre gute Arbeit mit dem Stalinpreis ausgezeichnet worden war. Weibliche Industriearbeiterinnen waren in Kiew zwar sichtbarer als in Leipzig und wurden im besten Licht inszeniert. Trotzdem war ihre Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine ähnlich schlechte. Von der Heldinnenverehrung blieb nichts übrig.
Start-Up-Ästhetik auf die Spitze getrieben
Weltweit arbeiten mehrheitlich Frauen in der Textilindustrie. Auch heute noch sind in der Leipziger Baumwollspinnerei Frauen zu Niedriglöhnen beschäftigt – nur, dass sie eben nicht mehr als Spinnerinnen arbeiten, sondern eher in dem großen anonymen Callcenter, das sich auf dem Areal niedergelassen hat. Steffi Schminke ist die Hausmeisterin des Geländes und bei den Künstlerinnen und Künstlern als der "gute Geist" der Spinnerei bekannt, ansonsten führt sie eher ein Schattendasein.
Seit jeher machten Büros circa die Hälfte des Geländes aus, und die Leipziger Business-School gibt ihren Studierenden regelmäßig Führungen über das Areal dieses Vorzeigeprojekts. Die hier ansässigen Start-Ups träumen davon, die Energiewende voranzutreiben oder die Reha-Versorgung zu verbessern. Ein Unternehmen hat sein Logo sogar als Grasteppich an der Außenwand angebracht, um die Start-Up-Ästhetik auf die Spitze zu treiben.
Spinnerei-Chef Bertram Schultze sagt, die Spinnerei verdanke den Textilarbeiterinnen aus der DDR-Zeit ihr "gutes Karma", das das Grundstück nach seiner Wiedergeburt zu solch einem "phänomenalen Produkt" gemacht habe. Doch eine Aufarbeitung der Geschichte könne er allein nicht leisten. Das Banner an seinem Gebäude begrüßt er, nur die Kritik an seiner Führung kann Schultze nicht ganz nachvollziehen. In den Kategorien Ost- und Westdeutschland wolle er als gebürtiger Westdeutscher heute nicht mehr denken. Anders als Schacht verstehe er auf seinem Gelände die Kunst und die Lohnarbeit nicht als Gegensätze. "In unserem Callcenter arbeiten auch Künstler, einfach, weil sie auf das Geld angewiesen sind", sagt Schultze.
Gesten des Zusammenhalts
Dann erzählt Schultze am Telefon eine Anekdote, die beweisen soll, welcher Schlag Frauen damals denn eigentlich in der Fabrik gearbeitet habe. Als der Leipziger Maler Hans Aichinger im Alter von zwölf Jahren in der Baumwollspinnerei aushelfen musste, hätten ihn alle Arbeiterinnen auf eine sexuell übergriffige Weise mit ihren Hinterteilen angestoßen, während Aichinger den Mittelgang entlang lief. Unabhängig davon, ob die Geschichte stimmt oder nicht, ist das genau die Art von Verallgemeinerung und Herabsetzung der Frauen, die Schacht kritisiert und die ihrer Ansicht nach in den Köpfen noch weit verbreitet ist.
Der Zeigefinger eines Mannes, der den Ton angeben will, ist bei Schacht ein wiederkehrendes Fotomotiv. Sie hat das Archiv der Baumwollspinnerei und das Archiv des Ukrainischen Staates durchkämmt, um aus diesen historischen Fotografien ihre Serie "My Covered (Fem.)History" über Industriearbeiterinnen zu arrangieren, die in den nächsten Monaten in Gruppenausstellungen in der Städtischen Galerie Wolfsburg und im Museum Folkwang in Essen gezeigt wird. Am auffälligsten ist, wie stark Schacht die Bilder zugeschnitten hat, und wie es ihr gelingt, den Betrachter für kleine Details zu sensibilisieren.
Männer und Frauen erkennt man in den Arbeiten nur noch anhand von Sakko oder Rüschenhemd. Es bilden sich aber auch viele Muster heraus, die mindestens genauso starke Geschlechts-Marker sind: die Frage, wer sitzt und wer steht, oder wer gestikulieren darf. "Sanfte Hände" hat Schacht die unmerklichen Gesten der Arbeiterinnen getauft, die sie wieder und wieder in den Archiven entdeckt hat. Es sind Gesten des Zusammenhalts unter den Frauen oder Gesten der Furcht vor den Vorgesetzten, es sind geschickte Handgriffe an den Spindeln oder an der Kittelschürze. Ohne sozialistische Inszenierung sind hier Heldinnen des Alltags zu sehen, die die Baumwollspinnerei so lange am Laufen gehalten haben.