Anh-Linh Ngo, Sie wollen mit der Ausstellung "Politik des Raumes" den Mythos Berlin seit 1989 analysieren und auch dekonstruieren. Warum, wie kam es dazu?
Marius Babias, der Leiter des Neuen Berliner Kunstvereins, n.b.k., hat mich eingeladen, anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Kunstvereins eine diskursive Ausstellung zu kuratieren. Da der n.b.k. explizit ein stadtpolitisches Programm veranstalten wollte, hatten mein Team und ich den Vorschlag gemacht, dieses Jubiläum mit einem anderen Datum zu verknüpfen: das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls. Schließlich bedeutete der Mauerfall nicht nur eine geopolitische Zäsur in der Konfrontation zwischen Ost und West, sondern hatte für Berlin, wo die kapitalistische und die realsozialistische Weltordnung räumlich unmittelbar aufeinanderprallten, ganz konkrete Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. Die Ausstellung skizziert die urbanistische und architektonische Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte: Wie ist Berlin zu dem geworden, was es heute ist?
Und wie wurde es das?
Uns geht es dabei nicht um Vollständigkeit im Sinne einer linearen Geschichtsschreibung, sondern um die Darstellung teils widersprüchlicher Prozesse und Narrative, die sich bis heute im gebauten Berlin überlagern und verdichten. Das eine Berlin gibt es nicht, dafür viele Mythen und Imaginationen dessen, was Berlin sein soll. Wir wollen mit der Ausstellung eine kritische Auseinandersetzung befördern, um das Image des hippen, dauerkreativen, innovativen Berlin zu hinterfragen und die zugrundeliegenden Kräfte in der Transformation der Stadt offenzulegen.
Sie haben drei Begriffe herausgegriffen: Geschichte, Markt, Kreativität. Können Sie die Stationen kurz erklären?
Die neue Raumpolitik nach dem Mauerfall vollzog sich auf drei Ebenen: Berlin sollte als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands "wiederhergestellt" werden. Auf der architektonischen Ebene bediente also der Neohistorismus, der als Berlinische Architektur konstruiert wurde, in erster Linie das Bedürfnis nach geschichtlicher Kontinuität und nationaler Identität. Doch die architektonische Rekonstruktionsdebatte der 1990er-Jahre, so unsere Argumentation, funktionierte auf der übergeordneten Ebene als ideologischer Taschenspielertrick und verschleierte die eigentlichen Transformationsprozesse, die weniger politischer als ökonomischer Natur waren. Schließlich hat die Marktwirtschaft über den Sozialismus gesiegt.
Wie zeigt sich das in der Stadt?
Dieser Sieg sollte sich nicht nur im Stadtbild, unter anderem durch das Ausradieren der Spuren der DDR-Moderne und der Rekonstruktion historischer Bauten, zum Ausdruck kommen, sondern auch durch eine andere Ökonomie der Stadt unumkehrbar gemacht werden. Privatisierung hieß dem Zeitgeist entsprechend die Losung.
Zum Beispiel von Wohnraum?
Tiefgreifende Verwaltungsreformen machten die flächendeckende Veräußerung kommunaler Liegenschaften möglich. Die Langzeitfolgen dieser Politik setzen heute den Wohnungsmarkt und das sozialräumliche Gefüge der Stadt zunehmend unter Spannung. Argumentiert wurde jedoch vorwiegend mit einer damit einhergehenden Austeritätspolitik, die im Gefolge der Berliner Bankenkrise verschärft wurde. Rhetorisch überdeckt wurde diese Entwicklung von der Inszenierung Berlins als kreative Stadt. So gesehen war Wowereits salopper Ausspruch "Arm, aber sexy" ein weitreichendes politisches Programm. Er ist Ausdruck einer neuen Stadtpolitik, die mittels einer gezielten Inwertsetzung von Sub- und Gegenkulturen den Mythos des kreativen Berlin zu überhöhen und die Stadt als einen globalen Sehnsuchtsort zu etablieren sucht bei gleichzeitiger Durchsetzung eines Sparzwangs.
Sie rücken auch politische Programme ins Bewusstsein, die in der Fachsprache abstrakt klingen, aber deren Konsequenzen unsere Realität jetzt dominieren. Was war noch mal das "Neue Steuerungsmodell"?
Damit war die Einführung unternehmerischer Elemente in der Verwaltung die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche verbunden. Statt öffentliche Daseinsvorsorge trat eine vordergründige Dienstleistungsmentalität an den Tag, die alles, was nicht dem neoliberalen Zeitgeist des schlanken Staates entsprach, dem Sparzwang unterwarf. Budget, Kennziffer, Output, Controlling und Wettbewerb waren die Schlagworte. Das kurzsichtige Primat der unternehmerischen Stadt hat jedoch zu einer Vernachlässigung der öffentlichen Infrastrukturen geführt, unter deren Folgen die Stadtgesellschaft heute in Form von Wohnungskrise, Lehrermangel, unterbesetzte Verwaltungen u.v.m. leidet. Begründet wurde der politische Reformwille in Berlin auch mit der Notwendigkeit, auf globaler Ebene mit anderen Metropolen konkurrieren zu können. Ein Baustein in dieser Strategie war die Instrumentalisierung des Kultur- und Kreativsektors.
Sah es also immer nur so aus, als wären Kulturpolitik und Neoliberalismus in Berlin widerstreitende Kräfte gewesen?
Sie waren immer komplementär. Einerseits wurden neue politische und kulturelle Räume eröffnet, andererseits ebnete der Mauerfall einer Neoliberalisierung der Politik den Weg. Die Instrumentalisierung der Kreativität als gesellschaftliche Funktion ist eines der folgenreichsten Aspekte dieser Entwicklung. Was in der Subkultur Berlins vor der Wende noch eine avantgardistische Prämisse war, hat sich heute zu einer ökonomischen Größe entwickelt. Kaum ein Treffen von Wirtschaft und Politik geht heute zu Ende, ohne dass Kreativität als funktionale Variable beschworen wird. Es ist die Rede von der Kreativindustrie, von der Creative Class, von der Creative City. Ursprünglich als Mittel zur Überwindung der funktionalistischen Gesellschaftsform gedacht, ist sie selbst funktionalisiert worden und hat ihren kritischen Gehalt längst verloren.
Mit welcher Konsequenz?
Kreativität ist im weitesten Sinne zu einem Strategem des Marketings avanciert. Wobei man fairerweise dazu sagen muss, dass unter dem neuen Senat ein Umdenken stattgefunden hat, was sich im neuen Strategiepapier zum Stadtmarketing bemerkbar macht, das die umstrittene "Be Berlin"-Kampagne ersetzen soll, die noch aus dem Geiste von "Arm, aber sexy" erwachsen ist.
Vieles an den Entwicklungen war vorhersehbar, vieles aber auch nicht. Gibt und gab es Dinge die Sie überraschen? Dass der Begriff „Enteignung“ gerade eine neue Aufladung erfährt zum Beispiel?
Wenn man die Entwicklung genau verfolgt, überrascht die Diskussion nicht. Überraschend ist eher, dass die Erinnerung an die grundgesetzlich verankerte Sozialpflichtigkeit des Eigentums auf eine so große Resonanz stößt, als ob das etwas Revolutionäres sei. Dazu muss man die Geschichte Berlins kennen. Gemeinwohl orientiertes Wirtschaften, vor allem im Wohnungssektor, ist für die Stadt kein neues Thema. Da waren wir in den 1920er-Jahren unter Martin Wagner, dem damaligen Baustadtrat, schon viel weiter. Unter Wagner entstanden die großen Siedlungen wie die Hufeisensiedlung oder Onkel Toms Hütte, die heute noch bewundert werden. Er regte die Einführung der Hauszinssteuer an, die zu einer Blüte des geförderten und gemeinnützigen Wohnungsbaus führte. Und unter dem Bundesbauminister Hans Jochen Vogel (SPD) war die Diskussion um die Bodenfrage in den 1970er-Jahren auch schon viel weiter. Bis auf die die FDP waren damals alle im Bundestag vertretenen Parteien, einschließlich der CSU, der Meinung, dass leistungslose Gewinne aus Bodenspekulation der Gesellschaft zusteht und nicht gänzlich dem Privateigentümer überlassen werden sollte.
Und dann?
Doch eine Reform des Bodenrechts kam nie zustande, weil auch schon damals das Reizwort "Enteignung" Ängste bei den Wählern ausgelöst hatte. Es ging jedoch nie um Omas kleines Häuschen, sondern darum, dass die Allgemeinheit von den öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur, die zur Wertsteigerung von Grund und Boden führen, profitieren soll. Dass die Bodenfrage und die Diskussion um "Enteignung" seit kurzem Jahren wieder Konjunktur hat, hat mit der eklatanten Wohnungsnot in den Städten zu tun und ist wenig überraschend. Wir haben in den vergangenen Jahren unter anderem mit einer Ausgabe zur Bodenfrage und einer Ausstellung zum Thema Gemeingüter, dem "Atlas of Commoning" im Kunstraum Bethanien, zu diesem Diskurs beigetragen. Schließlich muss man bei diesen Themen dicke Bretter bohren, immer wieder.
Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Kann Ihre Ausstellung einen Vorschlag machen?
Es geht bei unserer Ausstellung weniger um konkrete Lösungsvorschläge, als vielmehr um eine Rekonstruktion, wie es zu der heutigen Situation gekommen ist. So werden wir versuchen, möglichst umfassend die Privatisierungen der öffentlichen Hand seit der Wende darzustellen. Auf dieser Grundlage werden wir dann im diskursiven Teil der Ausstellung, die ein wesentlicher Bestandteil des Projekts ist, darüber diskutieren, was wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und welche Lösungen angemessen sind. Es ist ja nicht so, dass wir die Welt neu denken müssen.
Sondern?
Die Vorschläge und Lösungen werden seit langem von zahlreichen Initiativen in der Stadt nicht nur diskutiert, sondern auch schon konkret erprobt: Sei es die Änderung der Liegenschaftspolitik, die auf Privatisierungen verzichten soll, um die soziale Gestaltung der Stadtentwicklung nicht aus der Hand zu geben. Dazu werden Modelle wie Erbbaurecht wiederentdeckt oder neue wie Community Land Trust eingeführt. Sei es die Frage des Stellenwerts von Gemeingütern und das Verständnis von Stadtgestaltung von unten. Beispiele dazu sind das Haus der Statistik oder das Dragoner Areal. Berlin besitzt umfangreiche Kenntnisse und Erfahrungen in diesem Bereich. Es gilt, sie für die Zukunft produktiv zu machen.