Schnittig wie ein Hochgeschwindigkeitszug. Schräg gestellt wie eine kursive Schrift. Komplex wie ein Science-Fiction-Cockpit. Ein Gebäude, das aussieht wie für den Windkanal gemacht. Als 2005 das Phaeno in Wolfsburg landete wie ein Raumschiff, veränderte es die Ansicht der Stadt. Als Sehenswürdigkeit, die im Vorbeifahren auf der ICE-Strecke den Standort Wolfsburg markiert, bildete es den Gegenentwurf zu den vertikalen Backsteinschornstein der VW-Werke, dieser Bilderbuchfabrik auf der anderen Seite der Gleise aus der anderen Seite der Jahrtausendwende. Das Phaeno war ein dynamisches Statement aus der Zukunft. Und verwandelte das, was mal die Autostadt war, in ein Zentrum für Kunst und Wissenschaft.
Aber wie kann man dieses Statement, das der Museumsbau von Zaha Hadid fraglos ist ("Ich bin laut, ich bin neu, ich bin eigentlich gar nicht möglich"), ergänzen? Wie lässt sich diese Architektur, die bestaunt werden will, befüllen mit weiteren staunenswerten Dingen? Nach dem Vorbild amerikanischer Science-Center sollten sich hier Erkenntnis und Erlebnis auf bisher in Deutschland ungesehene Weise verschränken: ein bisschen Labor, ein bisschen Themenpark, ein bisschen Mitmach-Museum an über 300 Stationen, die auf Zaha Hadids architektonischen Landschaften frei verteilt wurden.
Den jetzigen Direktor Michel Junge verbindet eine ausgeprägte Hassliebe mit dem Gebäude, denn der Gestaltungswille von Zaha Hadid fordert Kompromisse. Der Eingangsbereich ist eng, dann öffnet sich über eine Rampe ein Innen, das sich kaum verstehen oder erfassen lässt. Rampen, eiförmige Einbauten, Nischen – das Begehen selbst ist schon eine Erfahrung, die die Aufmerksamkeit schärft. In einer Gründerzeitvilla könnte man mit denselben Exponaten sicher nicht dieselbe Erfahrung machen, und um die geht es schließlich, um das Erleben komplizierter Vorgänge mit den eigenen Sinnesorganen.
Kunst & Wissenschaft
"Nicht nur hands on", sagt Junge, "bei uns geht es um brains on." Junge, studierter Physik- und Mathematiklehrer, ist ein Enthusiast, wenn es um das Vermitteln von komplexen Dingen geht. "Wir entfachen die natürliche Neugier", sagt er. Eine Methode ist die kontra-intuitive Erfahrung. Der selbst erbrachte Beweis für etwas, das man nicht gedacht hätte. Wer würde beispielsweise nicht davon ausgehen, dass ein weit ausschwingendes Pendel länger für ein vollständiges Hin und Her braucht als das gleiche, aber nur wenig ausschwingende Pendel? Im Phaeno gibt es drei unterschiedlich lange Pendel, an denen man selbst noch die Pendellänge verändern kann. Und mit ihnen zu ganz anderen Ergebnissen kommt als gedacht. Solche Fundamentalerkenntnisse zählen zu den Basic-Stationen. Dazu gibt es viele künstlerische Installationen, die physikalische Gesetze in kinetische Bilder umwandeln. In der Gegenwartskunst sind diese Künstler nicht jedem geläufig, doch in der Wissenschaft sind sie die großen kreativen Namen. Arthur Ganson zum Beispiel, der mit klassischer Mechanik verblüffende Prozesse sichtbar macht. Etwa eine Kaskade von Zahnrädern, von denen das erste von einem Motor angetrieben wird und das letzte in Beton eingegossen ist.
Kunst und Wissenschaft, sagt Junge, seien doch zwei zutiefst menschliche Blicke auf das Gleiche. "Wir sind eingeschlossen in unseren Körpern, unsere Sinnesorgane erzeugen das Bild von der Welt." Doch die Frage nach dem Warum ist in der Wissenschaft die falsche. Eher geht es um das Wie. Vielleicht ist das ja der Unterschied zu den Kunstwerken von Gegenwartskünstlern wie Olafur Eliasson, Jeppe Hein, Alicja Kwade, die auf das ästhetische Erleben setzen und nicht in erster Linie auf die Erkenntnis. Bergauf fließende Wasserfälle, von selbst fahrende Wände geben ihr Geheimnis nicht preis. Haben diese Namen der Gegenwartskunst, die mit denselben physikalischen Gesetzen arbeiten, in der Welt der Wissenschaftsvermittlung einen Klang? "O ja", sagt Michel Junge und erzählt von Unterhaltungen mit Jeppe Hein, als der im Kunstmuseum Wolfsburg ausgestellt hat. Es gibt natürlich Gemeinsamkeiten. Aber er versteht gut, dass die Künstler sich da rausentwickeln. Eine Phaeno-Station mit rotierenden Spiegeln, die in unterschiedlichen Winkeln geknickt sind, könnte fast von dem dänischen Künstler sein. Doch die Spiegel sind kleiner, es geht nicht um die Aura des Objekts, nicht um die ästhetische Überwältigung, sondern eben um die sprichwörtliche Augenhöhe mit dem Betrachter.
Kurze Zwischenfrage: Wie verblüfft man Menschen heute noch, die es gewohnt sind, dass alle denkbaren Welten visualisiert werden können, dass generell immer alles möglich ist, ob man es nun versteht oder nicht? Kontra-intuitive Antwort Junge: "Die Dinge so einfach machen wie möglich." Denn nur dann stelle sich der geistige Konflikt ein, der Voraussetzung ist für die Neugier. Und ohne die geht gar nichts. "Ohne Neugier wären wir nur Gemüse." Heißt: lieber eine Kerze nehmen als LED. Das menschliche, nachvollziehbare Maß ist der Blackbox mit undurchschaubarem Inhalt immer vorzuziehen. Wenn eine Installation nur elektronisch funktioniert, dann muss das so transparent gestaltet sein wie nur möglich. Junge: "Wenn etwas ohnehin kompliziert ausschaut, dann hinterfrage ich das gar nicht. Dann akzeptiere ich das."
Neugier, Spieltrieb, Verblüffung
Klingt, als sei der zutiefst aufklärerische Ansatz, der auf Zahnräder setzt und nicht auf Programmierung, dabei gar nicht rückwärtsgewandt, sondern ein dringend notwendiger Werkzeugkasten für die Zukunft. "Menschen müssen denken können! Menschen müssen Ursache und Wirkung auseinanderhalten können. Dann sind sie auch in der Lage, Fakten von Fake News zu unterscheiden." Junge hält nichts vom überwältigt staunenden User. "Damit begeben wir uns in eine Art geistiges Mittelalter zurück. Damals sagte uns die Kirche, was wir glauben sollten, heute sagen es uns die Spezialisten." Aus KI und anderen Themen, die sich in den 15 Jahren, seit es das Phaeno gibt, entwickelt haben, hat man sich deshalb lange bewusst herausgehalten. Jetzt wird schon mal mit einer Eye-Tracking-Maschine ganz einfach die Benutzerbeeinflussung erfahrbar gemacht – nicht als unheimliches Spionagewerkzeug in einem meiner vielen Geräte, sondern simpel mit einem Bildschirm, auf dem einfachste Dinge abgebildet sind.
Wenn ich bei dem Pullover hängen bleibe, wird vielleicht der Hammer gegen ein Kleid ausgetauscht und der Apfel gegen ein paar Schuhe. "Wir werden dabei gemessen, was wir uns ansehen. So können wir die Filterblase erleben. Ein technisches System ist in der Lage, mein Verhalten zu analysieren." Oder das Thema Sicherheit: Als Herrscher über die Weichen einer prächtigen Kugelbahn wähnt man sich in Sicherheit und staunt über die rollenden Bälle, während ein anderer Benutzer mit dem Smartphone schon längst die Kontrolle übernommen hat. Und wieder ist der Aufbau eigentlich ganz einfach und durchschaubar. Es geht um Neugier, Spieltrieb, Verblüffung, aber nicht um Überlegenheitsdemonstration und Überwältigung. "Wir müssen in der Einfachheit den Menschen wieder die Sicherheit geben: Ich kann es verstehen", sagt Junge. Jetzt ist klar, dass das Phaeno mit seinem ambitionierten Programm gar nicht in erster Linie an den Stellschrauben der physikalischen Welt drehen will. Sondern an denen des menschlichen Verstandes.
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Phaenomenale
Nächster Halt Wolfsburg, und schon beim Ankommen wird die Phaenomenale sichtbar: Der Künstler Andreas Greiner generiert mit Abbildungen von Waldlandschaften aus der Umgebung zwei große Wandbilder für den Bahnhof. 2010 als Science-and-Art-Festival gegründet, erfindet sich die alle zwei Jahre stattfinde Phaenomenale in diesem Jahr als interdisziplinäres Festival für Digitalisierung neu. Sichtbar wird sie aber beileibe nicht nur im Netz, sondern auch mit vielen Projekten im Stadtraum, wobei beispielsweise die Einkaufsstraße Porschestraße zur kulturellen Flaniermeile wird und smarte, interaktive Kunstwerke in den Schaufenstern präsentiert. "Die Stadt Wolfsburg generiert und unterstützt ausdrücklich Initiativen, die sich mit den Entwicklungen und Fragen der Digitalisierung auseinandersetzen", sagt Kultur- und Digitaldezernent Dennis Weilmann. "Die neue Phaenomenale hat genau dies zum Ziel. Sie ist aber nicht nur ein Festival. Die Phaenomenale ist gleichzeitig ein Netzwerk von Akteuren aus Kultur, Technik und Wirtschaft, die ihre Kräfte bündeln und so mehr Strahlkraft nach innen und nach außen erlangen."
Dazu gehören Workshops und Events oder auch die Kunstausstellung "Erneuerbare Medien“ im Kunstverein Wolfsburg, in der digitale Technologie und Ökologie produktiver Bestandteil der künstlerischen Strategien sind. Im "Raum für Freunde" des Kunstvereins gibt die Künstlerin Bettina Hackbarth am Abend des 27. September Einblick in die Verbindung zwischen Malerei und dem digitalen Transaktionssystem Blockchain. Eine kinetische Installation aus Geräten und Spielzeug, eingereicht von Wolfsburgern, fordert auf dem Willy-Brandt-Platz vor dem Phaeno zum Erleben und Eingreifen per Smartphone auf. Die Ausstellung im Haus selbst macht komplexe digitale Prozesse am eigenen Leib erfahrbar, nicht nur in der Begegnung mit dem Roboter Smarty.
Phaenomenale, verschiedene Standorte in Wolfsburg, bis 1. Oktober