Alexia Pooth, kürzlich erschien Ihr Buch "Exhibition Politics. Die Documenta und die DDR", das das Thema mit historischen Analysen, Dokumenten, Bildstrecken sowie Interviews mit Zeitzeuginnen beleuchtet. Wie würden Sie die Beziehung zwischen DDR und Documenta beschreiben?
Das ist gar nicht so einfach, denn diese Beziehung ist von vielen Akteuren geprägt worden, die alle unterschiedliche Meinungen und Vorstellungen hatten. Zudem handelt sich um eine relativ lange Periode, die schon mit dem ersten Nachdenken über die Documenta in den 40er-Jahren begann und bis nach Maueröffnung, also bis in die Transformationsphase andauerte. Die Beziehung hat sich in dieser Zeit immer wieder gewandelt: In den ersten Jahrzehnten wollte man aus bundesrepublikanischer Sicht die künstlerische Produktion aus der DDR nicht auf der Documenta haben. Dies begründete sich mit der Politisierung der Kunst in der DDR und der Angst, dass die DDR "übergriffig" werden könnte. Kassel lag ja im Zonenrandgebiet, nur 40 Kilometer von der Grenze entfernt. Von Seiten der DDR wollte man wiederum den "Feind", also die BRD und die dortige Kunstproduktion, im Blick behalten. Das war allein aus politischen Gründen sehr wichtig, um im Kampf der Systeme möglichst als Sieger hervorzugehen. Die DDR hat zu jeder Documenta Reisekader geschickt, die dann in der DDR berichteten. Insofern ist das ein relativ asymmetrisches Verhältnis.
Gisela Schirmer hat bereits 2005 das Buch "DDR und Documenta" vorgelegt. Warum brauchte es nun noch ein weiteres Buch zum Thema?
Im Deutschen Historischen Museum fand 2021 die Ausstellung "Documenta. Politik und Kunst" statt. Dafür habe ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin den Bereich "die Documenta und der Osten / DDR" erforscht. Dabei wurde schnell deutlich, dass die 70er-Jahre durch das Buch von Gisela Schirmer sehr gut bearbeitet sind. Zu anderen Aspekten wurde bisher jedoch kaum geforscht. Man weiß zum Beispiel nicht, wer sich in der DDR mit der Documenta beschäftigt hat und wie die Menschen, die ja oft auch ARD, ZDF und HR geschaut haben, sie wahrgenommen haben. Zudem bin ich im Zuge der Recherchen auf so viel Material gestoßen, dass klar war, dass ich daraus noch ein Buch machen kann. Viele Menschen geben ihre privaten Unterlagen erst jetzt in öffentliche Archive. So werden neue Quellen zugänglich. Das ist eine andere Materiallage als 2005. Interessant ist, dass wir in den archivierten Akten bis heute fast nur das offizielle Sprechmaterial finden. Was wir nicht wirklich wissen und wo man weiter forschen müsste ist, wie inoffiziell, etwa in privaten Räumen, über die Documenta gesprochen wurde.
Der DDR-Kunstwissenschaftler Lothar Lang besprach die Documenta 4 im Jahr 1968 in der "Weltbühne" tendenziös, wie allein die Titel seiner Texte belegen: "Im Gruselkabinett der 4. Documenta" und "Kassel: Anti-Kunst". Als die DDR 1977 offiziell an der Documenta 6 teilnahm, war er entscheidender Akteur, aus heutiger Sicht würde man sagen, er war kuratorisch beteiligt. Änderte sich mit der Teilnahme der DDR dort auch das Bild der Documenta?
Ja, das kann man auf jeden Fall sagen! Mit der Teilnahme 1977 betrat die DDR die "westliche Kunstbühne", was aus politischen aber auch devisentechnischen Gründen wichtig war. Auch andere DDR-Kritiker wie Hermann Raum oder Karl Max Kober äußerten sich ab dann moderater. Der Verband bildender Künstler hat 1977 zudem mehr Reiseanträge bekommen und es durften auch mehr Leute zur Documenta fahren. Das DDR-Fernsehen hat Nachrichtenbeiträge gesendet. Einige sind im Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg erhalten. Zwar sind die immer noch sehr vergleichend, wertend, die eigenen künstlerischen und politischen Werte bestätigend, aber die Zuschauer wurden informiert und konnten nebenbei auch Blicke auf einige Kunstwerke "erhaschen", die nicht aus der DDR kamen.
Schon zur Documenta 5 war die DDR offiziell eingeladen. In Ihrem Buch findet sich ein Brief vom 24. März 1972. Karl Fritz Heise, damals Geschäftsführer in Kassel, schrieb an Erich Honecker und formulierte, dass der "Sozialistische Realismus auf dieser Documenta seinen Platz finden müßte" und lud die DDR offiziell zur Teilnahme ein. Wie war die Reaktion?
Aus den Unterlagen des Ministeriums für Kultur geht ganz klar hervor, dass man die Einladung ablehnte. Das waren die Anfänge der neuen Ost-Politik. Der Grundlagenvertrag war damals noch nicht ratifiziert. In der DDR verstand man die Documenta als außenpolitisches Machtinstrument der BRD gegenüber der DDR und nicht als eigenständige kuratorische Entwicklung. Das änderte sich erst im Lauf der 70er-Jahre.
Wechseln wir die Perspektive: Waren Akteure der Documenta, wie eben Harald Szeemann, der Kurator der Documenta 5, in der DDR unterwegs? Oder äußerte sich dieses Interesse nur schriftlich?
Ich habe das Material größtenteils in der Pandemie recherchiert und konnte mir den Szeemann-Nachlass im Getty Museum in Los Angeles nicht anschauen. Sicher ist aber, dass Szeemann damals nicht in der DDR war. Er wollte die Kunst des Ost-Blocks und den "Sozialistischen Realismus" zeigen. Er hat über das Außenministerium in Bonn die Fühler in alle möglichen Ostblock-Länder austrecken lassen, etwa auch nach Bulgarien. Sein Interesse war vor allem, dass Werke aus Moskau und St. Petersburg nach Kassel kommen sollten. Die DDR hat er erst mit ins Boot geholt als klar war, dass das mit dem "Sozialistischen Realismus" nicht so einfach werden würde. Ich glaube, er hat sich nicht wirklich für die Kunst der DDR interessiert. Er wollte kuratorisch innovativ sein und hatte die Idee, verschiedene Realismus-Konzepte nebeneinander zu stellen. Das finde ich bis heute unglaublich spannend, aber mit der Kunst, die damals in der DDR entstanden ist, hatte das wenig zu tun.
Haben sich andere Documenta-Akteure explizit für die DDR interessiert?
Für mein Buch habe ich unter anderem Klaus Honnef interviewt. Er war als Kurator bei der Documenta 5 und auch bei der Documenta 6 dabei. Zwischen den Ausstellungen passierte hinter den Kulissen sehr viel: Honnef war 1974 in Leipzig und in Weimar unterwegs, unter anderem mit dem Kunstkritiker Eduard Beaucamp während eines Kongresses der Aica, des internationalen Kunstkritikerverbandes. Da sind sie Bernhard Heisig und Werner Tübke begegnet. Auch diese Gespräche sind natürlich nicht aktenkundig, sondern nur als Erinnerungen überliefert.
Das heißt, die Einladung zur Documenta 6 erfolgte unter ganz anderen Vorzeichen und war von persönlichen Beziehungen geprägt?
Es gab zwischen der Documenta 5 und der 6 einen deutlichen Perspektivwechsel und eine erste Anerkennung der künstlerischen Qualität der Leipziger Schule. Willi Sitte stellte 1975 im Kunstverein in Hamburg aus, die Hamburger Kunsthalle hatte Werke von Tübke und Mattheuer angekauft. In der BRD waren Galeristen unterwegs, die Tübke auch aus Italien kannten. Das ist das Irre an der Documenta: Sie ist eine Trendsetterin, und man vergisst, dass es neben ihr auch andere Ausstellungen und Akteure gibt, die schon viel früher aktiv waren. Für Manfred Schneckenburger und die Documenta 6 war Mitte der 70er-Jahre sicher auch ausschlaggebend, dass sich die Infrastruktur verändert hatte: Die KSZE, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, war abgeschlossen, und es gab eine ständige Vertretung der BRD in Ost-Berlin. Diese hat die Documenta 6 genutzt und die entsprechenden Kreise direkt adressiert. Und Willi Sitte, damals Präsident des Verbands bildender Künstler, hatte Interesse und gab schnell sein Einverständnis. Die Documenta begegnete der DDR quasi auf Augenhöhe, auch indem sie den eingeladenen Künstlern freistellte, welche Kunstwerke sie in Kassel zeigen. Diese Freiheit hat die DDR natürlich genutzt.
Inwiefern?
Als klar war, dass die DDR teilnehmen wird, entstand im Verband Bildender Künstler die Idee, ein eigenes kuratorisches Konzept zu entwickeln und mehr Künstler mitzunehmen, als von der Documenta-Leitung eingeladen worden waren. Volker Stelzmann und Hans Vent standen auf der Liste. Auch Filme waren geplant, und es sollten Dias gezeigt werden, die die Genese der Kunstentwicklung in der DDR aufbereiten sollten.
Wie konkret waren diese Pläne vorangeschritten?
Das gibt die Aktenlage nicht her. Es gibt ein von der Staatssicherheit aufgezeichnetes Telefongespräch zwischen Wolfgang Mattheuer und Bernhard Heisig, in dem diese Konzeption thematisiert wird. Ich weiß nicht, woran es gescheitert ist. Und ich habe auch keine Antwort darauf, warum am Ende Jo Jastram mit zur Documenta kam.
Neben Jastram waren Fritz Cremer, Bernhard Heisig, Werner Tübke, Wolfram Mattheuer und Willi Sitte präsent, mit insgesamt 23 Werken. Die DDR feierte es als Erfolg und behauptete in der Presse, die Räume seien besser besucht gewesen als andere. Warum war die DDR auf der Documenta 7 nicht wieder dabei?
Ich glaube, die Erklärung ist ganz simpel: Der Anspruch der Documenta war, möglichst die innovativste Kunst zu zeigen. Ob sie den immer eingelöst hat, ist eine andere Frage. Die Begründung 1982 war also sicher: Wir haben die Kunst aus der DDR einmal gezeigt, und deshalb müssen wir das nicht noch einmal tun. Der Kurator Rudi Fuchs war wohl auch in der DDR; gerade in Ost-Berlin waren alle Kuratoren der Documenta irgendwann einmal. Aber für Fuchs waren die Kunstproduktion in Ost-Europa und der DDR nach eigener Aussage ein anthropologisches und kein künstlerisches Problem. Es fehlte offensichtlich ein Bewusstsein für die Nuancen des Kunstbetriebes in der DDR und letztlich auch dessen Kenntnis.
Wie sprechen bisher nur über die Präsenz der DDR: War Ost-Europa vor 1990 auf der Documenta präsent?
Die Kunst aus dem Ostblock hat immer eine Rolle gespielt, aber interessanterweise keine große. Auch das ist eine Thematik, die dringend erforscht werden muss. Ich sehe mein Buch als Türöffner, auch für die Beschäftigung mit dem ehemaligen Ostblock und Fragen, die wir heute diskutieren: Was ist eigentlich der Osten? Und welche Länder gehören dazu? Kunst aus dem Ostblock, oder etwa aus dem ehemaligen Jugoslawien, war, so meine Einschätzung, vor allem dann in Kassel präsent, wenn sie vermittelt über Galerien auf die Documenta kam. Oder die Künstler zum Beispiel durch den DAAD, den Deutschen Akademischen Austauschdienst, schon Kontakte zur BRD hatten. Meistens waren es Künstler, die sich stilistisch in dem Radius bewegten, der für die Documenta gerade aktuell war.
Unabhängig von der Herkunft der Künstlerinnen und Künstler: Ist die deutsche Teilung kontinuierlich auf der Documenta in Kunstwerken thematisiert worden?
Ob kontinuierlich kann ich nicht sagen, aber es war ein Thema. Es gab auf der Documenta immer wieder Werke, die das Ost-West-Verhältnis thematisierten, aber von den Kuratoren nicht explizit erwähnt werden. Ich habe in meinem Buch etwa HAP Grieshaber herausgegriffen, der sich auf beiden Seiten der Grenze bewegte und 1955, 1959 und 1964 auf der Documenta präsent war. Seine figürlichen Darstellungen fanden auch in der DDR großen Anklang. Werner Schmidt, der Direktor des Kupferstich-Kabinetts in Dresden, bewegte ihn dazu, immer wieder Werke nach Dresden zu geben, und mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig entstand eine Publikation. Es gibt solche biografischen Verbindungen, aber auch Künstler, die sich davon unabhängig mit der Thematik auseinandersetzten. Auf dem Cover meines Buches ist Jörg Immendorffs "Naht (Brandenburger Tor –Weltfrage)" von 1982 zu sehen. Sinnfälliger kann man es kaum machen: Das Brandenburger Tor in Kassel vor das Fridericianum zu stellen, während das eigentliche Bauwerk in Berlin eingemauert ist. Immendorf war wiederum auch mit A.R. Penck befreundet.
Bei der Documenta 9 war Via Lewandowsky der einzige in der DDR geborene Künstler. Warum war der Systemumbruch 1989/1990 im Jahr 1992 nicht präsenter?
Da kommen viele Sachen zusammen: Kurator Jan Hoet ist schon 1988 ernannt worden, und parallel zur Wiedervereinigung liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Es war unglaublich schwer, das eigene und lang tradierte Misstrauen abzulegen. Da geht es um Hierarchien, um "Bessersein", um "Freiheit versus Unfreiheit". Das ist nicht auf eine Floskel zu reduzieren und wurde lange eingeübt. Die Kunstkritikerin Petra Kipphoff schrieb zum Beispiel 1977 zu den Skulpturen von Jo Jastram und Fritz Cremer, solche Werke würden in der BRD nur noch in Vorgärten stehen. Für Jan Hoet wiederum waren die Künstler aus der DDR lediglich kulturhistorisch interessant. Da beginnt im Prinzip schon der Bilderstreit über die Einordung künstlerischer Produktion in der DDR.
Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über die Documenta nach dem Fall der Mauer und das zweite Marathon-Gespräch von Jan Hoet in Weimar 1991. Wie ist das genau abgelaufen?
Das war im Prinzip eine Werbe-Veranstaltung, die Hoet zuvor schon einmal in Gent durchgeführt hatte. Im Documenta-Archiv gibt es das gesamte Filmmaterial dazu. Über 24 Stunden sprach man auf einer Bühne über Kunst. Anhand hunderter Dias wurden etwa 400 künstlerische Positionen gezeigt. Das war ein Blick hinter die kuratorischen Kulissen, wobei auch ganz deutlich wird, dass man mit dem Selbstverständnis nach Weimar kam: Wir zeigen euch jetzt, was Kunst ist! Unter anderem waren alle noch lebenden Documenta-Kuratoren eingeladen, um dem ostdeutschen Publikum zu erzählen, was die Documenta ist. Jan Hoet stellte seinen Vorgängern die unmissverständliche Frage: "Wie ging es euch in eurer Documenta-Zeit damit, dass Kassel an der Grenze lag? Wie seid ihr damit umgegangen?" Alle haben minutenlang geantwortet, ohne wirklich etwas über das Thema zu sagen. Harald Szeemann konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sein Geschäftsführer einen Brief an Erich Honecker geschrieben hatte. Auch Manfred Schneckenburger hat viel geredet, aber man ist nicht wirklich in den Dialog gekommen.
Saßen Akteure aus dem Osten auf der Bühne?
Nein. Auch im Publikum saßen kaum Leute aus Weimar oder aus der ehemaligen DDR, sondern eher internationale Galeristen und Journalisten. Und aus dem Publikum kamen auch kaum Fragen, die das Ost-West-Verhältnis betrafen. Die Documenta hatte 1992 gedacht, dass nun ganz viele aus dem Osten nach Kassel kommen würden. Das hat sich nicht bewahrheitet. Kassel hatte immer Städtepartnerschaften in die DDR, und kurz nach Maueröffnung war Kassel überfüllt von Menschen. Aber nur 5,5 Prozent der Besucher der Documenta 9 kamen 1992 aus den neuen Bundesländern.
Die Frage nach der Präsenz von Kunst aus der DDR und Künstlerinnen mit Ost-Biografie stellt sich noch heute. Warum endet Ihr Buch mit der Documenta X?
Catherine David ging zum Ende des 20. Jahrhunderts viel analytischer an die Documenta heran und reflektierte theoretisch, was sie tat. Das gab ihr ein anderes Fragensetting und stellte die Documenta auf neue Füße. Mit Yana Milev oder Carsten Nicolai begegnen wir auch einer anderen Künstlergeneration. Natürlich kann man die Fragen nach der DDR weiterdenken. Auf der Documenta 14 waren etwa Ulrich Wüst und die kürzlich verstorbene Ruth Wolf-Rehfeldt vertreten. Beide sind in der DDR geboren und haben dort künstlerisch gearbeitet. Das ganze Thema "Documenta und DDR" im Detail zu erforschen, ist herausfordernd: zwei Länder, mehrere Jahrzehnte, jede Documenta wurde von einem anderen Personenkreis gemacht, zeigte andere künstlerische Positionen, hatte eine andere politische Ausrichtung, es gab viel Berichterstattung und noch mehr Besucher. Da kann man als Forscherin nie allem gerecht werden.
Der Kunstwissenschaftler und Documenta-Experte Harald Klimpel forderte kürzlich das Ende der Documenta und begründete dies unter anderem mit der "Entkunstung", dem "Ersetzen der Kunst durch Politik". Teilen Sie seine Einschätzung?
Ich glaube nicht, dass eine "Entkunstung" stattfindet. Die Documenta war aber nie unpolitisch. Sie hat nur lange behauptet, sie sei es und hat sich auch so verkauft. Aber wenn wir uns zum Beispiel Werner Haftmann anschauen, machte er die Dinge durch sein Tun und Sprechen politisch. Es ist immer eine Gemengelage zwischen Kunst und Politik. Neutral als Kunsthistorikerin gesprochen, muss ich sagen, dass jede Epoche irgendwann zu Ende ist. So manch einer hätte sich nicht vorstellen können, dass die DDR einmal nicht mehr existiert. Das kann auch bei einer Documenta passieren. Die Zeit wird es zeigen.