Der hölzerne Schlüsselkasten, der in der Kunsthalle Nürnberg hängt, ist entkernt und verwaist. Vielleicht war er ein Flohmarkt-Fund der Berliner Künstlerin Alex Müller, vielleicht erinnert er sie auch an ein früheres Mietshaus, an eine besonders prägende Wohnung aus ihrem Leben. Jedenfalls hängen keine Schlüssel oder Namensschilder mehr darin. Das abschließbare Ding, das ein Körper war, hat seine Form verloren, ist wie ein Quadernetz aufgeklappt.
Nur eine Dame hält hier die Stellung. Auf einem weißen Vorhang hinter dem Glas des Kastens steht "Madame Les Deux Tiers" (Madame Zweidrittel) geschrieben. Mindestens zwei Drittel ihrer eigenen Lebenszeit habe sie jetzt bereits hinter sich, sagt die Künstlerin Alex Müller, hoffentlich habe sie noch ein letztes Drittel Zeit übrig.
Das Französisch dieser Beichte kann nur kurz darüber hinwegtäuschen, was für eine unbequeme Wahrheit das sein muss. Die verhüllende Alltagssprache lädt uns zur Verdrängung ein: Manchmal ist von einem Mann mittleren Alters oder von einer Midlife-Crisis die Rede, was dann ungefähr nach Hälfte-Hälfte klingt, aber sich bei genauerem Nachrechnen als Wunschdenken herausstellt. Ist es unhöflich, darüber offener zu sprechen als bisher? Oder liefert es womöglich den Impuls zu einem guten, selbstbestimmten Leben?
Man muss die Dinge heutzutage selbst in die Hand nehmen
Alex Müller nutzt die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit, die sich aus ihrer Beschäftigung mit der eigenen Sterblichkeit ergeben, für ihre große Ausstellung "Bis die Zeit vergeht" in der Kunsthalle Nürnberg. Auf einen Biografen oder einen Kunsthistoriker lohnt sich nicht zu warten, man muss die Dinge heutzutage selbst in die Hand nehmen. Mit einem gesunden Ego erzählt sie ihr eigenes Leben nach, von der Kindheit über ihre Akademiezeit und verschiedenste Wohnorte, von ewig-wiederkehrenden Motiven bis zu ständig wechselnden Medien – alles natürlich mit einem offenen Ende.
Ohne strenge Chronologie gliedert sich die fantastische Ausstellung in acht Stationen (darunter Huchem-Stammeln, Los Angeles und Berlin-Neukölln), in denen unterschiedliche Schaffensphasen einander gegenübergestellt werden. Diese acht Säle der Kunsthalle, die Ortsnamen auf acht goldenen Briefkastenschlitzen vom Flohmarkt (man denke zurück an den Schlüsselkasten), ergeben ein geschlossenes Universum und entwickeln einen starken Sog. Er fühlt sich an, als fiele man in den Kaninchenbau aus "Alice im Wunderland" und verstrickte sich mit jedem neuen Raum tiefer.
Im Laufe ihrer Karriere hat Müller 526 Kunstwerke gefertigt. Mehrere Dutzend werden in Nürnberg gezeigt, aber alle 526 werden mindestens als Titel und Datum auf einem Einmachglas mit Schraubverschluss erwähnt, wie eine Art Opfergabe an die Kuratoren-Götter. Überhaupt ist das Zählen als Bestandsaufnahme hier eine wichtige Bewältigungsstrategie. Angefangen hat alles beim Abzählen von Gardinenringen als Einschlaf-Ritual, seitdem wurden die Gardinenringe eines von Müllers Lieblingsmaterialien, neben Erbsen und Mohnsamen in feinen Lineaturen.
Das Leben wird nicht bloß erzählt
Zu den neuesten Arbeiten gehört eine Strichliste aus 354 Messern, Gabeln und Löffeln. Das Besteck wurde zunächst gesammelt, dann in Papier eingewickelt und bemalt. Es rekapituliert das erste Kalenderjahr im Leben der Künstlerin, das Mitte Januar begann, deshalb fehlen ihm zwölf Tage ("Das erste Jahr 1969", 2023). Ein Rosenkranz aus 31 roten Perlen, die in Größe und Form einem operativ entfernten Gallenstein nachempfunden sind, kündet von Schmerz und Erlösung ("Parure de Bile", 2022).
Dann ufert die kleine Neurose immer weiter aus. Das Leben wird hier nicht bloß er-zählt, es wird auch ent- und zer-zählt. Was bedeutet es eigentlich, mit dem Finger an einer Reihe gleicher Dinge vorüberzuziehen und jedem ein anderes Wort zu geben, bis man auf einer abschließenden Zahl endet?
Ganze 32 Seifenstücke hat Müller in den vergangenen acht Jahren angesammelt ("Die Zartheit des Täglichen", 2023). Es sei ihr unbewusst passiert, ohne den Vorsatz, daraus Kunst zu schaffen. Alle Stücke sehen unterschiedlich benutzt und abgeschliffen aus, die Seife ist kurz- und langlebig zugleich. Zum Zufall als Ausgangspunkt kommt bei Müller stets das Konzeptuelle hinzu. Im Fall der Seife übernimmt diesen Part ein genähtes Seidenetui, in dem die 32 Seifen wie Edelsteine oder Ehrenabzeichen präsentiert werden.
Was muss man nicht alles täglich von Neuem machen!
Wieder ein Tag geschafft!, scheinen solche Arbeiten zu rufen. Und: Was muss man nicht alles täglich von Neuem machen! Davon handeln Müllers Gemälde aus Kaffeesatz und Rotwein und ihre frühe Videoarbeit über den eigenen Schlaf – noch ein Zeitdieb, noch ein Gleichmacher. Doch parallel zu der täglichen Selbstbehauptung schleicht sich die Abnutzung ein. Ähnlich wie Müllers nebulöse Brustbilder ("Das Flüstern des Sekretärs", 2013) ungrundiert und von Tusche durchtränkt sind, sickert auch in den ausgestellten Teppichboden ihres Ateliers und in ihre Jeans die Farbe. Es geht hier viel um Verfärbungen und Vergilbungen. Der Rollrasen einer Installation verwelkt schon seit der Vernissage.
Was allen Menschen gemeinsam ist, wird nicht banal, sondern universell bedeutsam. So kann eine Beschäftigung mit dem eigenen Leben großzügig sein, statt großspurig. Und dann ist es nur folgerichtig, dass die Nürnberger Ausstellung von ihrer Zugänglichkeit für alle lebt, ihrer ungewöhnlich einfachen Sprache im Begleitheft, das erstaunlicherweise bei diesem monumentalen Thema zurechtkommt, ohne die gesamte westliche Philosophie herbeizuzitieren. Viele von Müllers Arbeiten erklären sich von selbst und bewahren ihr Geheimnis.