Adrian Ghenie in Wien

Mit Egon Schiele in der Schattenwelt

Meisterhafter Dialog in der Wiener Albertina: Der Maler Adrian Ghenie interpretiert dort verschollene Werke von Egon Schiele. Das Ergebnis verbindet die Wucht des Expressionisten mit der neuen Entfremdung der Gegenwart

Egon Schieles Körper ist so mager, dass man die Rippen zählen kann. Der Oberkörper ist nackt, die Hose schlackert so tief um die knochigen Hüften, dass die Schamhaare hervorschauen. In einer melancholischen Geste hält der Künstler die gespreizten Finger an das Gesicht. Der Kopf ist schräg gelegt, der Körper ist im Zickzack in die Bildfläche eingepasst, eine Linie der Verletzlichkeit. Man kann durch diesen expressiv verzerrten Leib hindurchschauen und sieht die nackte Menschlichkeit, existenzielle Angst und Verzweiflung.

"Die Weltwehmut" heißt dieses ergreifende Selbstporträt von Egon Schiele, entstanden irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg. Das Bild ist verschollen, so wie viele andere des 1918 im Alter von nur 28 Jahren an der Spanischen Grippe verstorbenen Österreichers. Ein Viertel seiner Gemälde ist verschwunden, verloren, vielleicht auch von ihm selbst zerstört. Die Schwarz-Weiß-Fotografien, die von ihnen existieren, geben eine Ahnung des unglaublichen Schatzes, der der Kunstgeschichte fehlt. 

Der Maler Adrian Ghenie hat diese "Schattenbilder" nun zum Thema eines Zyklus von Zeichnungen und Gemälden gemacht, einer Idee des scheidenden Direktors der Wiener Albertina, Klaus Albrecht Schröder, und des Kurators Ciprian Adrian Barsan folgend. Er reduziert die Motive auf ihre Tiefenstruktur und nimmt sie zum Anlass von malerischen Neuerfindungen. In seiner Variante der "Weltwehmut" ist die Haltung der Figur die gleiche, der nackte Oberkörper, die Finger an den Lippen. Aber die Dekonstruktion geht viel weiter, als der Expressionist Schiele sie gewagt hatte. 

Verbunden durch die Verzerrung

Ghenie, 1977 in Rumänien geboren und einer der erfolgreichsten Künstler seiner Generation, ist wie Schiele ein Maler der Verzerrungen, der in den gedrehten, wie auseinanderfliegenden Körpern die Extreme der Moderne aufspürt. Nur, dass Ghenie durch die Schule Francis Bacons gegangen ist und zusätzlich durch die technologische Explosion der Gegenwart, die das im 20. Jahrhundert bereits pulverisierte Ich noch einmal auf neue Weise dezentriert und auflöst. 

Sein Protagonist steht nicht vor einem stilisierten Dorf wie der Schieles, sondern in einem Innenraum, seinem Arbeitszimmer vielleicht, ein Bürostuhl neben ihm. Wahrscheinlich ist er gerade vom Laptop aufgestanden. Seine Gesichtszüge lösen sich komplett in verwischten Linien, Kreise und Strahlen auf, die ein bisschen wie Alien-Tentakel aussehen. 

Auch Ghenies "Knieender männlicher Akt mit erhobenen Händen", entstanden nach einem gleichnamigen Bild von Schiele, sieht aus wie ein Außerirdischer, der durch irgendeinen Navigationsfehler in einem sehr profanen Badezimmer gelandet ist. Würdevoll und exzentrisch wie eine Figur auf einer altägyptischen Zeichnung hält er den Arm in die Luft – direkt neben der Kloschüssel. Die alltäglichen Interieurs, die zeitgenössischen Accessoires wie das Smartphone in der Hand unterscheiden Ghenies Werk von den Originalen, wo die Figuren oft vor monochromem Hintergrund schweben. Sie fügen etwas Humor hinzu. Doch die Wirkung wird damit nicht weniger existenziell. 

Würdige Paraphrasen 

Die Ausstellung in der Albertina zeigt die Fotos der "Schattenbilder" und die zeitgenössischen Neuerfindungen parallel, sodass man den Prozess der zitierenden Bildfindung sehr direkt nachvollziehen kann. Das wirkt in keinem Moment didaktisch, sondern erhöht nur die Ehrfurcht vor dem Mut eines Zeitgenossen, sich an diese legendären Werke zu wagen.

Wer den Blick von den Bildern lösen kann und ihn kurz zu Boden senkt, sieht dort Metallleisten, als befände man sich in einem Operationssaal. Oder in der Pathologie? Die "Schattenbilder" sind verloren, eine Wiederbelebung findet nicht statt. Aber Ghenies Paraphrasen von Schieles Totentänzen finden zu einer Intensität, die des Vorbilds würdig ist.