Fotografie Forum Frankfurt, kurz vor der Eröffnung seiner Ausstellung "Chameleon": 15 Kilometer von hier ist Abe Frajndlich 1946 als Sohn polnischer Juden in einem Displaced Persons-Lager in Zeilsheim geboren. Später zog er über Brasilien in die USA, nach Ohio.
Eigentlich wollten wir uns über Cindy Sherman unterhalten, aber dann führt eine Geschichte zur anderen (und später dann doch zu Sherman). Vorher geht es aber noch um Isaac Bashevis Singer, den ersten jiddischsprachigen Nobelpreisträger für Literatur, und um die Frage, ob dieser Ort eigentlich noch jener historische Ort für Frajndlich ist. Er kennt Frankfurt gut. Hier hat er, aus Amerika kommend, für das Magazin der "FAZ" fotografiert. Es gibt Familienmitglieder, die niemals wieder nach Deutschland gekommen wären, erzählt er. Für Frajndlich war die Frage nach dem richtigen Umgang eine Entscheidung: Vor allem ging es darum, sich nicht von außen bestimmen zu lassen.
Abe Frajndlich: Ich würde also nicht in der Vergangenheit leben. Das war keine Option. Und als Fotograf zu leben, heißt, wirklich in der Gegenwart zu leben. Nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Jetzt.
Und dann machen Sie eine Retrospektive wie jetzt hier in Frankfurt, und haben es plötzlich mit einer riesigen Fülle an konservierter Gegenwart zu tun.
Ja, und einige Fotos sind nun schon 50 Jahre alt! Ich denke, ein Teil davon hat auch damit zu tun, dass ich meine Eltern so früh verloren habe. Eine Verbindung zu ihnen waren Fotos. Einige davon wurden hier in Zeilsheim gemacht, im Displaced Persons-Lager. Und wenn man meinen Vater sieht, wie er stolz seinen Sohn hochhält – für sie muss das, nach allem, was sie durchgemacht haben, wie ein Wunder gewesen sein. Sie dachten niemals daran, dass nach all diesem Tod noch einmal Leben kommen würde. Ich habe meinen Vater ja nie wirklich kennengelernt. Er starb, als ich 13 Monate alt war. An meine Mutter habe ich Erinnerungen, sie starb, als ich zehn Jahre alt war. Insofern bergen diese Fotografien eine Art von Macht über meine Vergangenheit. Unbewusst bin ich wohl auch deshalb Fotograf geworden. Es erscheint wie dieses magische, mystische Medium. Die Person ist nicht da, aber wenn man ihr Foto betrachtet, dann erwacht sie plötzlich zum Leben. Dann erzählt man sich vielleicht noch Geschichten über sie.
Als Fotograf wären Sie dann selbst der Magier oder Alchemist über die Bilder?
Es war nicht so, dass ich immer Fotograf werden sollte. Ich habe erst Literatur und Sprachen studiert. Aber irgendwann hielt ich eine Kamera in der Hand und dachte: das ist es! Hinzu kommt, dass Fotografie diese universelle Sprache spricht. Wenn du jemandem ein Foto zeigst, dann versteht er. Du musst es nicht erklären. Egal, aus welcher Kultur kommend du draufblickst – jemand anderes kann dasselbe Foto lesen. Natürlich aus seiner Perspektive. Er oder sie mag das anders sehen als du, auch als eine dritte Person. Alles, was du mitbringst, fließt in das Lesen der Bilder ein. Aber man kann sich darüber austauschen. Es ist ein sehr fluides Medium für Kommunikation.
Ein früher Auftrag als Fotograf führte Sie dann zu Cindy Sherman, die sich selbst inszeniert, aber selten von anderen fotografieren lässt. Wie haben Sie sie erlebt?
Ein Freund von mir arbeitete in dem Museum, das eine Ausstellung mit Cindys Arbeiten vorbereitet hatte. Zur Vorbereitung bekam ich einen Katalog von Schirmer/Mosel. Und was mich wirklich beeindruckte ist, wie schüchtern sie ist. Sie musste also einen Weg finden, wie sie der Welt begegnen und sich ihr zugleich präsentieren konnte. Teil der Lösung war, all diese verschiedenen Masken und Rollen zu tragen. Denn es sind ja keine Selbstporträts, die sie macht – es sind Porträts von ausgedachten Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Personen. Sie kreierte diesen fiktionalen Charakter, der ihr ermöglichte, in die Welt hinauszutreten und sich zu präsentieren, obwohl sie eigentlich so schüchtern ist. Die ihre Privatheit schützte. Ich brachte also zum ersten Shooting einige Masken mit, schwarz und weiß. Als sie die gesehen hat, wusste sie: Diese Person versteht, wo ich herkomme. Es war gleich ein Vertrauen da, und wir konnten loslegen.
Einige Jahre später, als Cindy Sherman dann in New York ausstellte, konnten Sie sie noch einmal fotografieren.
Ja, das nächste Mal habe ich sie dann für "Vanity Fair" fotografiert. Und Cindy gab uns einen vollen Tag Zeit, sie war sehr, sehr offen. Damals hatte ich gerade angefangen, für die "FAZ" zu arbeiten. Also schlug ich ihr vor, noch einen weiteren Tag zusammenzuarbeiten, um dort einen großen Beitrag unterzubringen und ein sehr kulturaffines Publikum in Europa zu erreichen. 2012 dachte ich dann irgendwann: Jetzt habe ich genug Bilder von Cindy Sherman für ein eigenes Buch. Also stellte ich einen Dummy zusammen mit dem Gedanken, sie für einen weiteren Tag anzufragen, 24 Jahre später. Leider haben dann sie und ihr Galerist – vor allem ihr Galerist! – entschieden, dieses Projekt sei zu nah an dem, was das "Produkt" Cindy selbst ausmacht. Bald wurde ich dann bedroht, dieses Buch nicht weiter zu verfolgen, sonst könnte ich verklagt werden. Also war das Thema erst einmal für mich erledigt.
Neben Cindy Sherman haben Sie hunderte Künstlerinnen und Künstler porträtiert, von Jack Lemmon bis Louise Bourgeois, Nancy Spero bis Gordon Parks. In der Ausstellung steht ein Gedicht des Schriftstellers Duane Michals an der Wand geschrieben, mit dem schönen Satz "Anyone who can turn a lemon into Jack Lemonade is a foto alchemist". Außerdem hätten Sie ein oder zwei Tricks auf Lager. Auch solche, wie man mit künstlerischer Schüchternheit umgeht – wie man sein Gegenüber dazu bekommt, dem Fotograf zu vertrauen?
Ach, das Wörtchen "Trick" hat Michals sehr, sehr frei interpretiert. Der wahre Trick ist: es gibt keine Tricks. In Wahrheit ist es doch so: Man trifft eine Person, fotografiert ihr Porträt, und du musst irgendwie fühlen, dass sie dir vertraut und offen ist. Das funktioniert, indem man Arbeiten von sich zeigt und vorbereitet ist. Und wenn du ihnen dann noch zeigst, dass du sie gut aussehen lässt, auch noch in einem wirklich großen, schönen Format wie dem "FAZ-Magazin" damals, dann ist das kein Problem. Habe ich eigentlich schon von Frank Gehry erzählt?
Nein, erzählen Sie!
Also, ich sollte Frank Gehry fotografieren, wollte dafür nach Los Angeles reisen, und er sagte: "Klar, komm‘ vorbei, ich kann dir zehn Minuten am Sonntag geben." Ich flog also von New York nach Los Angeles für diese zehn Minuten Shooting. Mein Bauchgefühl sagte mir aber, dass Frank als Architekt sehr offen für die Künste sein muss, dass da noch mehr möglich wäre. Also rief ich den Donnerstag vor unserem Termin bei ihm an. Er sagte: Okay, dann können wir uns auch jetzt für zehn bis 20 Minuten treffen. Ich sagte: Prima, aber mein Assistent mit dem Licht ist noch gar nicht da. Lass‘ uns einfach erstmal so treffen, uns kennenlernen.
Und dann?
Also fuhr ich zu seinem Studio, wir unterhielten uns, ich zeigte ihm meine Arbeiten – insbesondere die Fotos aus der "FAZ". Und plötzlich sagte er: Weißt du, vielleicht wird das doch mehr als zehn Minuten dauern. Und ich: Ja, schon möglich. Und dann gab er mir plötzlich eine ganze Woche, in der ich ihn begleiten konnte, an unterschiedlichen Orten dabei sein, Installationen fotografieren. Er wollte Teil dessen sein, was ich tue. Also konnte ich ihn bei seiner Arbeit begleiten, und er wurde dadurch Teil von meiner. Ein wiederkehrendes Motiv bei Frank Gehry ist ja der Fisch. Es stellte sich heraus, dass seine jüdische Großmutter in Toronto immer Karpfen kaufte, aus dem sie dann "Gefilte Fisch" machte. Das war seine Verbindung, sehr persönlich. Er hieß ja eigentlich Frank Goldberg, änderte den Namen dann aber in Gehry. Ein irischer Name. Ich denke, am Anfang hat er das wohl für karrierefördernd gehalten.
Oh, wirklich? Goldberg ist ein so schöner Name.
Ja, natürlich! Aber er arbeitet immer noch sehr erfolgreich, und "Gehry" hat ihn offenbar nicht daran gehindert. Er schien zumindest das Gefühl zu haben, der Name Goldberg könnte ihn ausbremsen. Die amerikanische Kultur ist ja sehr auf Homogenisierung aus. Labelling. Wenn du also irgendwohin kommst und dein Name gleich ruft, dass du ein Fremder bist, dann könntest du anders behandelt werden, als wenn du ein US-Amerikaner bist. Ich habe übrigens nie meinen Namen geändert! Obwohl er wirklich schwierig ist, gerade für Amerikaner. Es ist die jiddisch-polnische Variante von "freundlich". Sie wissen also gleich, dass sie es mit einem Juden zu tun haben. Ursprünglich wollte ich meinen Namen in "Frank" ändern, aber dann war ich irgendwann doch schon unter diesem Namen bekannt.
Sie sind sehr viel rumgekommen in den letzten Jahrzehnten. Haben Sie einen Ort gefunden, an dem weniger gelabelt wird?
Nein, das ist leider so ein Menschending. Jeder will lieber seine Coke oder Pepsi haben als etwas, das er nicht zuordnen kann.
Beim Rundgang durch die Ausstellung hier in Frankfurt haben Sie eine Geschichte erzählt, deren Bilder nicht zu sehen sind, aber die sich auf dem Weg zu einem weiteren Porträtauftrag zugetragen hat.
Das war eine relativ große Story für die deutsche "Harper’s Bazaar". Die Autorin war auch eine "von", also adelig. Wir waren bei Herrn Thyssen-Bornemisza und seiner Frau Tita zu Hause in Lugano. Zu diesem Zeitpunkt hatte jeder von ihnen mehrere Ehepartner gehabt. Größtenteils präsentierten sie uns ihre Sammlung, ihre Juwelen, Schmuck und falsche Brüste. Der Hausherr wollte sich dann in etwas fotografieren lassen, das aussah wie einer dieser langen SS-Ledermäntel, und er war so stolz darauf. Er stand in einem dieser langen Flure des Schlosses. Ein bisschen alt schon, um ihn zu tragen, er passte nicht mehr richtig. Aber er war sehr stolz, dass er ihn wohl in seinen Dreißigern getragen hat.
Sie sagten, er sah aus wie ein SS-Mantel – sind sich aber nicht sicher?
Ich habe nicht genug Fragen gestellt. Ich war ja nur dort, um Fotos zu schießen. Die Autorin hat wahrscheinlich gefragt – ob es dann im Text vorkam, weiß ich nicht. Aber klar war: ich würde mich nicht davon beleidigen lassen. Das war ihr Problem.
Aber Sie haben diese Bilder dann an die Redaktion eingeschickt?
Oh ja, sie haben sie abgedruckt! Natürlich, das hier ist "Harper’s Bazaar". Sie sind also sehr interessiert an dem Status, der mit diesen Dingen zusammenhängt. Das war übrigens 1989. Wir waren auf dem Weg zu einem sehr bekannten italienischen Fotografen, Mario Giacomelli, weiter im Süden des Landes. Dort konnten wir dann ein paar Tage mit diesem anderen Menschen verbringen, der ausgesprochen nett war. Als Fotografen untereinander weiß man, was der andere tut. Man kann sich also ganz einfach über Dinge unterhalten, man versteht sich sofort.
Ich würde annehmen, dass es schwieriger ist, andere Fotografinnen oder Fotografen zu porträtieren. Weil sie gewohnt sind, immer die Kontrolle über ihre Bilder zu haben.
Naja, sie wissen, was du tust. Sie bauen schnell Vertrauen auf. Und dieses Projekt, für das ich Giacomelli porträtieren sollte, war von Kodak und vorher von "Life Magazine" gesponsert. Das war ein Produkt, eine Marke, die viele nutzten, die wichtig ist für ihre eigene Arbeit. 140 verschiedene Fotografinnen und Fotografen auf der ganzen Welt habe ich im Laufe des Projekts porträtiert. In einem solchen Kontext sind sie natürlich sehr offen – weil du etwas tust, das ihrer Karriere gut tut. Und Kodak wie auch "Life" waren sehr respektiert. Da werden dir die Türen also sehr weit geöffnet.
Sie wechseln zwischen freien- und Auftragsarbeiten. Welche Vorhaben möchten Sie noch umsetzen?
Aktuell bereite ich gerade ein Fotobuch mit dem Arbeitstitel "Women in the arts" vor. Darin werden Porträts der letzten 15 Jahre versammelt, von der Künstlerin bis zur Kuratorin. Auch eine junge Rapsängerin wird dabei sein. Es wird ein großer Rundumblick.