Modestudentin macht Kollektion über Scham

"Eine peinliche Situation kann sehr befreiend sein"

Scham ist gerade für Frauen oft verinnerlichte Unterdrückung. Die Londoner Modestudentin Louisa Fleischer hat diesem ambivalenten Gefühl ihre Abschlusskollektion gewidmet

Im Frühjahr zeigte die Central Saint Martins, die renommierte Londoner Hochschule für Kunst und Design, während der Modewoche in der britischen Hauptstadt die Abschlusskollektionen ihrer Masterstudierenden. Zwischen breiten gesteppten Capes, ausladenden Roben aus roter Seide und asymmetrischen Wickelkleidern lief auch ein Model, das keines war. Louisa Fleischer, Absolventin, präsentierte einen Look ihrer Kollektion "Walk of Shame" an sich selbst: ein schmales Höschen und ein in dichte Falten gerafftes Oberteil, auf dem korsettgleich das Skelett eines Schalen-BHs eingearbeitet war, an den Füßen mit Kunstpelz eingekleidete Highheels, so lief sie, für das wachsame Publikum nicht von den anderen Models zu unterscheiden, über den Laufsteg. Fünf weitere Outfits umfasst die Kollektion der 32-jährigen Hamburgerin, feingefertigt-zerrissene Stoffe, Unterwäsche-Elemente und neutrale Farben sind allen Entwürfen gemeinsam.

"Walk of Shame" beschreibt in der Regel eine Situation, in der eine Person allein an Fremden, Freunden oder Bekannten vorbeigehen muss, oft nachdem sie Gelegenheitssex hatte. Wofür sie sich eigentlich schämen soll, könnte man mal überlegen. Auch Louisa Fleischer hinterfragte in ihrer Recherche und durch ihre eigenen Erfahrungen das Konzept des Schams und designte mit ihrer rauen, humorvollen Kollektion eine Hommage an die Überwindung eines von außen aufgezwungenen Schamgefühls. Ihr eigener Lauf waren die letzten Schritte in einem Akt der Befreiung. Denn: Wie viel shame steckt noch in einem walk, wenn man ihn freiwillig und stolz den scharfen Augen der Modewelt präsentiert?

Mit Scham und Demütigung müssen sich gerade Frauen von klein auf auseinandersetzen. Die Entwicklung des eigenen Körpers und damit verbundene, von der Gesellschaft bestimmte Makel bieten eine riesige Angriffsfläche. Für Fleischer kam hinzu, dass sie früh begann zu stottern und so noch regelmäßiger peinliche Situationen aushalten und sich dem Urteil anderer aussetzen musste. Durch diese ständige Konfrontation lernte sie mit der Zeit, Demütigungen, Schamgefühl und Peinlichkeit ihre Macht zu entziehen. "Diese vermeintlich störenden Merkmale können die eigene Resilienz stärken. Deshalb sind mir heute Dinge oft weniger schnell unangenehm", erklärt sie. "Eine peinliche Situation kann auch sehr befreiend sein, wenn man über sich selbst lachen kann und nicht so viel Wert darauflegt, was das Umfeld denken könnte. Im Nachhinein kann ich mich meistens darüber amüsieren und freue mich deshalb schon fast, wenn mir etwas Unangenehmes passiert."

Bewegung und Tanz gegen das "Scham-Leid"

Einen Ausgleich zur gesprochenen Kommunikation fand Fleischer schon als Kind im Tanz. Gerade der Improvisationsunterricht, aber auch das Ballett erschlossen sich ihr als eine Art Ventil, das ihr ermöglichte, sich nonverbal auszudrücken und angestaute Emotionen zu verarbeiten. "Wenn ich mich früher dafür geschämt habe zu stottern, habe ich dieses Gefühl beim Tanzen herauslassen können", erklärt sie.

Es fasziniert sie, Menschen durch Bewegungen, und seien sie noch so minimal, "sprechen" zu sehen. Jede Regung, von der Atmung, über die Gangart, bis zu den Kontakten im öffentlichen Raum, schenkt Fleischer große Aufmerksamkeit. In ihrer Arbeit hat sie das Scham-Leid und ihre im Tanz gefundene Lösung vereint. "Für mich persönlich sind diese beiden Themen miteinander verbunden, da ich davon überzeugt bin, dass Bewegung und Tanz einen direkten Einfluss darauf haben, wie wir uns in unserem Körper fühlen."

Auf unterschiedlichen Ebenen wendet die Modedesignerin den Tanz in ihrer Kollektion an. Gebrauchte Tanzschuhe hat sie zu einer Lederjacke verarbeitet. Momente der Bewegung werden in absichtlich schief sitzenden Bodies sichtbar. Wie beim Tanzen verließ sie sich bei dem Herstellungsprozess auf impulsive Eingebungen und ihre eigene Intuition, so entstanden wilde Drapierungen und in Energieschüben zusammengenähte Materialien.

Fleischer nennt Pina Bausch als eine Inspirationsquelle, und auch das Werk der Künstlerin Carolee Schneemann studierte sie. "Schneemann hat ihren Körper als eine Ergänzung zu ihren Kunstwerken gesehen und ihn im dreidimensionalen Raum eingesetzt. Oft wurde sie dabei auf eine sexuelle Ebene reduziert, dabei ging es ihr um den menschlichen Körper und ihrer war nun einmal weiblich." Die Künstlerin Ana Mendieta wiederum stellte in einigen ihrer Arbeiten westliche Schönheitsideale und Geschlechterrollen in Frage, was Fleischer dazu motivierte, diesen Diskurs auch ihrer Kollektion zu Grunde zu legen. "Ich bin an dem Ungefilterten und Echten interessiert. Merkwürdige Situationen und Dinge faszinieren mich. Personen, die gegen die Regeln der Normschönheit arbeiten oder einfach ganz unbewusst gar nicht daran teilnehmen. Meine Kollektion hat die Intention, nicht unbedingt gefallen zu wollen."

Mehr Mut zur Selbstironie

Die Kleider entblößen und betonen Stellen des weiblichen Körpers, die Kleidung üblicherweise verdeckt, ohne ihn dabei zur Schau zu stellen. Spröde, zerschlissene Materialien, offene Säume und etwa zu einem Tubetop verarbeitete Nylonstrumpfhosen lassen die Looks verwegen und furchtlos wirken. Übergroße Jersey-T-Shirts und Herrenhemden gleichen winzige Slips und drapierte Bodies aus. "Mir doch egal", scheint jedes einzelne Outfit zu sagen.

Eine Inspiration war auch Fleischers Mutter, die vor wenigen Jahren gestorben ist: "Nach meinem Empfinden war meine Mutter eine Frau, die sehr gerne über sich selbst und prekäre Situationen lachen konnte und ich habe mir das zum Glück abgeschaut." Gleichzeitig durchlebte Fleischer durch den Tod auch ein weiteres, gesellschaftliches Tabuthema, das bedrückend an die eigene Sterblichkeit erinnert. Und an das Altern, etwas Unvermeidbares, Natürliches, das jedoch insbesondere Frauen noch heute als Makel vorgehalten wird. Einige getragene Kleidungsstücke ihrer Mutter verwendete Fleischer in ihren Looks in neuer Form wieder.

Insgesamt nutzte die Designerin ausschließlich Materialien zur Herstellung ihrer Kleider, die schon vorher in Gebrauch gewesen waren. Auch das ist ein rebellischer Akt, in der von immer neuen Textilien lebenden Modewelt. Jeder Look entstand in einem eigenen, kreativen Prozess, in den sich Fleischer, wie sie sagt, "fallen ließ, um so spontan und natürlich wie möglich zu einem Ergebnis zu kommen." "Die meisten Designs sind drapiert, und ich habe mich auf das Eigenleben des Materials eingelassen, vieles ergibt sich im Prozess. Das ist der Moment, den ich liebe, wenn ich meinem Gefühl trauen kann."

Essenzielles Stück Schamhaar

Eine dunkle Hose etwa besteht aus vielen miteinander verbundenen Slips. "Die Hose ist inspiriert von einer lustigen und auch etwas unangenehmen Geschichte, wie sich ein schon getragener Slip in meiner Hose verloren hat und dann bei der Arbeit aus ihr herausgerutscht ist." Ein Samtrock entstand aus einer ihrer Lieblingshosen, eine helle Hose wurde aus einem alten Wollpullover und einem Baumwollstoff gefertigt, in dem Fleischer beide Materialien wild übereinander genäht und so miteinander verbunden, sie schließlich mit einer Bürste aufgeraut hat. "Diese Hose hat etwas sehr Organisches, ich hatte bei der Kreation das Bild eines Baumes vor Augen. Meine Mutter hat mal gesagt, dass wir uns vorstellen können, dass unsere Füße tiefe Wurzeln wie ein Baum schlagen und wir dadurch einen festen Stand und Halt bekommen." Alte Stofftanzschuhe finden sich als BH-Körbchen wieder, Bettwäsche hat Fleischer gefärbt und zu einem Oberteil verarbeitet. Ein Nierenwärmer, vielleicht die Verkleidlichung von uncool, wiederum mit einem Body verbunden und so in die Kollektion eingefügt.

Den mutigsten Look präsentierte Louisa Fleischer selber. Mutig, da den essenziellen Teil ein kleines Stück Schamhaar ausmacht, das durch den besonders tiefen Sitz des Slips freigelegt wird. "Da von Frauen im Allgemeinen erwartet wird, dass man sich die Zeit dafür nimmt, möglichst 'gepflegt' zu erscheinen, habe ich hierbei auf sichtbares 'Scham'-Haar gesetzt. Wir werden genötigt, so viel Zeit mit unserem Erscheinungsbild zu verbringen, dass ich mich für die entspanntere Variante entschieden habe. Auch, weil es zu den Fellschuhen passt, die aus dem Innenfutter einer kaputten Jacke entstanden sind."

Ihr Ziel ist es, eines Tages gar nicht mehr davon beeindruckt zu sein, was andere wohl denken könnten. Und damit hätte sich jeder zukünftige "Walk of Shame" wohl auch erledigt.