"Oral History" nennt man das heute: erzählte Geschichte, direkt, ungefiltert, Leute erzählen einfach und jemand hört zu und notiert. Für "Working" hat Studs Terkel unzählige Gespräche mit Menschen geführt, die über ihrer Erwerbsarbeit sprechen. Auf über 500 Seiten, in neun große Kapitel unterteilt, erzählen in dem 1974 erschienenen Buch Menschen, die als Feldarbeiter, Sekretärin, Schauspieler, Friseure, Fahrstuhlführer, Haufrauen, Klavierstimmer, Prostituierte, Vorstandsvorsitzende oder Anwälte arbeiten, über ihr Verhältnis zur Arbeit.
So einfach wie ergreifend wird in "Working" (das den wundervollen Untertitel "People talk about what they do all day and how they feel about it" trägt) Menschen die Möglichkeit eröffnet, zu erfahren, wie Lohnarbeit, Hausarbeit und eben die breite Anzahl von "Jobs" und Beschäftigungen, die den Kapitalismus auf all seinen hierarchisch getrennten Ebenen am Laufen halten, sich für diejenigen anfühlt, die in den ihnen durch ihre Berufe zugeschriebenen Rollen große Teile ihres Lebens verbringen.
Um es gleich zu sagen: Entfremdung und Ausbeutung, extreme Erschöpfung und tiefe Frustration waren auch schon 1974 an der Tagesordnung. Es ist erschütternd, zu lesen, wie gerade die "einfachen" Jobs Menschen regelrecht auslaugen, sie erzählen offen, wie jeder Tag aufs Neue aus monotoner körperlich harter und seelisch abstumpfender Arbeit besteht, und sonst kaum etwas bleibt als ein viel zu kurzer, unruhiger Schlaf.
Entmenschlichung ist der größte Schmerz
Automatisierung begann schon damals diese Jobs zu fressen, und so kommt zu der stetigen Erschöpfung auch noch das erniedrigende Gefühl, eigentlich nichts weiter als eine Art menschliche Maschine zu sein. Um dieses "Sein" geht es in fast allen Gesprächen. Menschen "werden" zu ihrem Beruf, sie sind nicht mehr Judy oder Frank oder Misses Hurtiger, sie werden zu einer Sekretärin, zu einem Manager oder eben zu einer prekär lebenden Fliessbandmaschine.
Und hier wird das Buch so zeitlos und kraftvoll, dass es sich wirklich lohnt, es auch heute zu lesen. Obwohl viele der in "Working" beschriebenen Jobs inzwischen gar nicht mehr existieren, ist beispielsweise die bittere Entfremdung der Telefonistin, die acht Stunden am Tag mit hunderten von Anrufern betrieblich bestimmt immer nur die selben sechs generischen Sätze sprechen darf und dazwischen 20 Minuten Pause hat, (nicht 21, nicht 22, nein, exakt 20), durchaus vergleichbar mit vielen heutigen Jobs, die vielleicht klingendere Namen tragen und garantiert mit Computern zu tun haben, aber in ihrer Entmenschlichung vielleicht sogar noch rigider geworden sind.
Entmenschlichung ist in vielen Gesprächen mit den Menschen in "Working" der größte Schmerz. Eine Nummer werden, austauschbar sein, nicht "man selbst" sein zu dürfen, das ist eine Erniedrigung, die sich nach und nach tief in die Seele und das Selbstbild frisst.
Eine Art geheime Gemeinschaft
Auch hier zeigt "Working", wie manche es schaffen, inneren Widerstand zu halten, sich mit kleinen Tricks Freiräume zu schaufeln und selbst in den strengsten Regulativen ab und an unbeobachtet doch noch eine Art Miteinander aufzubauen. Oft hilft es den Menschen, die in Terkels Buch über ihre monotonen und zehrenden Jobs berichten, sich eine Art geheime Gemeinschaft aufzubauen, Solidarität mit den anderen zu spüren, stille Vertrautheit, ein Blick, ein Gespräch in der Pause, menschliche Verbindungen in unmenschlichen Beschäftigungen. (Diese Verbundenheit sind subversiv, selbstgewählt und fernab von all den grauseligen "Teambuilding"-Techniken des heutigen Hyperkapitalismus).
Und doch gibt es auch immer wieder Menschen in Terkels Buch, die ihren Job, ob groß oder klein, gerne tun. Wundervoll zum Beispiel die Kellnerin, die ihren Job als komplexe Choreografie, als Aufführung versteht, und wenn andere sie bedauern, selbstbewusst antwortet: "Wieso? Ich finde, es ist eine Ehre, von mir bedient zu werden!"
Zufrieden sind trotz harter körperlicher Anforderungen oft die Menschen, die etwas schaffen, das "bleibt" und später erkennbar von ihnen stammt. Ein Steinmetz, der in einer kleinen Stadt seit Jahrzehnten Ecksteine für Häuser beschlägt, sagt im Gespräch, er freue sich, beim Gang durch die Straßen sagen zu können: "Das habe ich gemacht!", "Das auch!", "Und das auch!" Sein Rücken ist kaputt, die Hände auch, aber er sieht Ergebnisse, die ihn stolz machen. Viele Männer reden sich ihrer harten Jobs in den Gesprächen mit Terkel oft noch mit "harter Männerjob" und ähnlichen Klischees schön, lassen aber dann nach einiger Zeit doch spüren, wie leer diese Sprüche sind. So leer wie die Jobs. Was hilft?
Arbeiten, bis man leer ist
Eine solidarische Gemeinschaft, offene menschliche Kommunikation und ein stolzes Erleben von Arbeitsergebnissen, scheinen damals wie heute Arbeit zu etwas Schönem zu machen. Und eben leider nach wie vor selten zu sein. Viele der Interviewten mit unbefriedigenden Jobs kapitulieren innerlich, haben keine Kraft mehr für Wunschträume und Humor, sie sind zu dem geworden, was von ihnen erwartet wird: austauschbare Batterien, die ihre Arbeitskraft so lange abgeben, bis sie leer sind. Ende.
Anders prägend scheint dann die Arbeit in "höheren" und sozialen Berufen. Gerade Leute, die sich "hochgearbeitet" haben, sprechen mit einem gewissen Stolz über ihre Position. Auch hier wird Status und Identität fast vollständig mit der Position in der Arbeitswelt verbunden. Man ist jemand, hat es geschafft, hat etwas erreicht.
All das war und ist nichts Neues, aber es so deutlich in so vielen Selbstbeschreibungen zu lesen, öffnet dann doch nochmal die Augen dafür, wie prägend Arbeit ist.
Die Kraft der Lüge
Doch auch im hohen Status kommt Entfremdung vor, wenn auch gedämpft durch viel Geld und Status. Eine Werberin mit riesigem Gehalt und Luxusanwesen ist zwar stolz, es in der damals noch extremer männerdominierten Werbewelt so weit gebracht zu haben, fragt sich aber zugleich, was sie da eigentlich macht: billigstes Zuckerzeug und mit Chemie vollgepumpte Fertiggerichte mit ihren Verkaufsideen als wunderbare liebevoll aufgeladene und trostspendende Nahrung zu verkaufen. Schönste Lügen.
Menschen, die viel mit anderen Menschen umgehen müssen, benennen in Terkels Interviews ebenfalls die Kraft der Lüge als wichtiges soziales Mittel. Taxifahrer, Busfahrerinnen, Kosmetiker, Friseusen, Verkäuferinnen, Vertreter und Empfangspersonal sind nur einige der Berufszweige, die in "Working" davon erzählen, wie sie nach und nach merken, dass eine freundliche Lüge die Kundinnen und Kunden scheinbar erst wahrhaft glücklich macht.
So berichtet eine Kosmetik-Verkäuferin sinngemäß: "In der Kosmetik, die ich verkaufe, ist im Endeffekt überall das Gleiche drin, als käme das alles aus einem Topf. Aber wenn ich die freudigen und erwartungsvollen Gesichter der Kundinnen sehe, die die besonders "gute" teurere Creme kaufen, will ich dieses Gefühl einfach nicht zerstören."
Das "Gefühl" von Arbeit
"Working" taucht durch die direkte Mitschrift der Gespräche tiefer in das "Gefühl" von Arbeit ein, als eine soziologische Studie oder ein gezielt investigativer Text im Stil von Günter Wallraffs "Ganz unten" (wer erinnert sich?). Auch versucht hier niemand, im Namen einer "Working Class" zu sprechen, sie spricht eben selbst. Das ist das, was ich daran so mag. In "Working" sprechen unzählige Menschen in ihrer eigenen Sprache über ihre Arbeit. Diese Sprache ist so aufschlussreich wie das, was sie sagen. Sehnsüchte nach Erfüllung und Sicherheit und der Wunsch nach Anerkennung liegen eigentlich allen Erzählungen zugrunden, sie werden nur ganz unterschiedlich erfüllt.
Vieles hat sich seit Erscheinen des Buches verändert, einige Berufe gibt es so heute gar nicht mehr. Sie sind ersetzt durch Maschinen, das legendäre Fräulein vom Amt und der Autoteil-Fließband-Bestücker sind Vergangenheit. So wie in nicht mal 20 Jahren wahrscheinlich Texterinnen, Grafiker und viele "White Collar"-Jobs durch KI automatisiert sein werden. Zuerst also erwischte es den Körper, nun folgt flugs der Geist.
Heute gibt es andere prekäre Jobs: Paketzustellung, Dateneingabe, Amazon-Paketsortierung, Food-Lieferdienste … Privilegierte Tätigkeiten wie die Werberin aus Terkels Buch ersetzen inzwischen mehr und mehr "Influencer" und "Content Creators", wahrscheinlich nur inzwischen ohne jegliches schlechtes Gewissen. Es ist faszinierend, sich vorzustellen, Studs Terkel würde heute nochmal das Aufnahmegerät laden und die Runde machen. Er verstarb 2008.
Lyrische Schönheit
Seine Sammlung von ungefilterten Erlebnisberichten aus der weiten seltsamen Welt der Arbeit lebt weiter. Am schönsten finde ich, dass der legendäre Broadway-Komponist Stephen Schwartz ausgewählte Texte aus "Working" 1977 zu einem Musical werden ließ. Ich habe die 1982 für den US-Sender PBS produzierte Verfilmung auf DVD gefunden, so gut! Allein die Idee, aus all dem ein Musical zu machen ist brillant. In kleinen Szenen und Songs singen hier Musical-Stars in der Rolle von Putzfrauen, der bereits erwähnten Kellnerin, Stahlarbeitern und Chefs die kaum veränderten Texte des Buches und öffnen so noch einmal stärker die durchaus lyrische Schönheit all dieser Berichte über die Schwierigkeiten des Arbeitslebens.
Sich selbst in einem durch Ungleichheiten, Machtgefälle und mehr oder minder zugeteilten Privilegien durchzogenen Leben eine eigene Geschichte zu erzählen, in der man versucht, sich den eigenen Platz in diesem Leben zu erklären, das tut wir wohl alle. Zu hören, wie viele andere Menschen das tun, schafft nicht nur Einblicke in Lebenswelten, die sonst wenig Beachtung finden, es zeigt überdeutlich, wie gefangen wir in selbstgeschaffenen und vermeintlich alternativlosen Strukturen sind, die hinzunehmen oft eben nur dem Privilegierten dieser Strukturen leichtfällt.
Studs Terkel zeigt, das auch die vermeintlich abhängten und unbedeutenden Menschen Stimmen haben und sehr dringend gehört werden sollten. Falls man Menschen mag. Und man merkt bei der Lektüre seines Buches, dass tief unter all den Klischees, Zuweisungen, Statusstrukturen und Aufmerksamkeitsökonomien unserer Welt Menschen eigentlich ganz ähnliche Wünsche und Sehnsüchte haben: Liebe, Gemeinschaft, Anerkennung und eine Verbundenheit mit dem, was man tut und erlebt. Das ist natürlich ein ganzer riesiger Haufen an Dingen, und man mag argumentieren, dass all das noch nie gleich verteilt war. Aber warum das so ist, darüber denkt man dann schon ein bisschen anders, nachdem man Studs Terkel gelesen hat.