Es ist wirklich mal an der Zeit, vom Effizienzdenken auf ästhetische Bedürfnisse umzuschalten. Sonst schreitet die Verödung der Innenstädte weiter voran. Elke Buhr hat diesen April in Monopol vorgeschlagen, leerstehende Kaufhäuser wie die Berliner Galeries Lafayette zu Kunstorten – oder von Kunstschaffenden geführten Communityzentren – umzuwidmen. An diesen einleuchtenden Vorschlag schließt sich die Überlegung an, was man mit kleineren Geschäftsräumen sinnvollerweise anfangen kann – etwa mit Läden, die nicht so ohne Weiteres zu Wohnungen umfunktioniert werden können.
Stefanie Seidl hat schon vor 14 Jahren eine Antwort auf die Frage gefunden. Dabei hat sich diese Frage in wirtschaftlich besseren Zeiten gar nicht unbedingt gestellt. Ziemlich spontan und ohne sich ein Konzept zu überlegen, so erzählt es die Künstlerin und Kuratorin bei einem Book Launch in Berlin, habe sie den Mietvertrag für einen winzigen, vorher der Galerie Klosterfelde zugehörigen Raum unterschrieben.
Ursprünglich handelte es sich um eine Tordurchfahrt für Pferdekutschen im ehemaligen Scheunenviertel, in die später beidseitig Fensterglas eingesetzt worden war. Die Glasfront zur Linienstraße hin verlockte Seidl dazu, "zahlreichen kreativen Bekannten" ein Schaufenster für neu entwickelte Werke zu bieten. Mit einer wöchentlichen Wechsel fing es 2010 im Berlin-Weekly Project Space an, so Seidl, "und es wurde zunächst viel Design gezeigt". Die Gründerin hat selbst Gestaltung studiert, findet "die Trennung zwischen bildender Kunst und Design aber ohnhin verzichtbar, einmal abgesehen davon, dass die 'Designarbeiten' häufig gewagter und experimenteller waren", sagt Seidl.
Zwei Aktmodelle im Fenster
Inzwischen hat sich Berlin-Weekly auf einen Monatsturnus der Wechselausstellungen eingependelt. Der von einer Wand getrennte hintere Teil des Raumes wird zeitweilig für weitere Ausstellungen der Gäste genutzt und ist dann auf Anfrage zugänglich, während die Schaufensterseite wie eine verschlossene Vitrine funktioniert. Seidl spricht hier von einer "Ausstülpung des öffentlichen Raums", was besonders sinnfällig wird, wenn man ihren eigenen Beitrag vom August 2015 betrachtet: Für die Aktion "Act-Drawing To Go" posierten zwei Aktmodelle im Fenster, mit dem außen bereitliegenden Material war das Publikum auf der Straße zum Aktzeichnen eingeladen.
Nach der eintägigen Zeichenaktion wurden die Ergebnisse wochenlang im Schaufenster ausgestellt. Die zweite Phase von "Act-Drawing To Go" war insofern eine Ausnahme, als Seidl ansonsten "Flachware" im Schaufenster vermeiden wollte und will. Mit dem Raum soll gearbeitet werden, "lediglich Fotos oder Malereien zu präsentieren war und ist keine Option", so erklärte es die Kuratorin bei einer Buchvorstellung im (etwas geräumigeren) Project Space Henselmann Tower am Strausberger Platz. Aus insgesamt 170 vor Ort entwickelten Werken wurden "100 Windows" ausgewählt, auf jeweils einer Doppelseite ist eine Arbeit abgebildet und kommentiert.
Der nicht-kommerzielle Kunstraum setzt sich von der üblichen Funktion eines Schaufensters als verführerische Warenauslage ab, doch einige Beiträge nehmen die naheliegende Assoziation durchaus auf – wie etwa die auf dem Cover abgebildete Installation "Open Source" des Fotokünstlers Menno Aden, der Räume von oben fotografiert und im Juli 2017 den raumfüllenden Print seines Topshots von einem Kiosk vom Prenzlauer Berg ins Schaufenster stellte.
Spannungsvolle Irritation
Um das Bild in den Raum hinein zu erweitern, stellte Aden Getränkekästen, Winkekatzen und eine blinkende "Open"-Anzeige vor die Fototapete. Die um 90 Grad gekippte Draufsicht auf den Laminatboden eines "Späti" und dessen Auslage sorgt für eine spannungsvolle Irritation. Beim Book Launch erklärt Aden, dass er mit der zugrundeliegenden Fotoserie den verschwundenen Kiosken der Linien- und Auguststraße seine Reverenz erweisen wollte. "Hier hat die Gentrifizierung Berlins mit am stärksten zugeschlagen", sagt der Fotograf.
Fotografische Dislokationen, ausufernde Material-Assemblagen, bühnenbildhaft-atmosphärische Inszenierungen, schwindelerregende Raumzeichnungen und vieles mehr: Die Vielfalt, die sich in der Rückschau über anderthalb Kunstfensterjahrzehnte entfaltet, überzeugt ebenso wie die hohe Qualität der Beiträge – die unbedingt neugierig auf weitere Werke der Beteiligten machen.
Seidl, die hier vor allem junge, noch nicht sehr arrivierte Positionen zeigen will und alle Kunstschaffenden nur einmal ausstellen lässt, ist sich der Flüchtigkeit des Betrachtens und der Betriebsamkeit der Straße voll bewusst. Die Passanten würden in der Regel keinen langen Begleittext lesen wollen: "Die Fensterinstallation steht für sich, sie soll die Leute anspringen, überraschen", sagt Seidl, die sich natürlich freut, wenn die Begegnung zu einen kontemplativen "Innehalten und Nachdenken" führt. Medien, die sich nach Ansicht der Kuratorin glänzend für die Vitrinensituation eignen, sind Lichtkunstwerke und Videoinstallationen, "einfach, weil diese Arbeiten bei Dunkelheit sehr effektiv in die Straße ausstrahlen". Als Beispiel nennt sie Judith Rautenbergs Videowerk "Again" (gezeigt im Februar 2022), bei dem ein Tänzer riesenhaft hinter der von zwei Längsstreben zum Triptychon unterteilten Kammer eingesperrt scheint und wiederholt Versuche unternimmt, aus dieser Glasbox herauszukommen. Ein einsamer Kampf, der sich nachts als nervöses Lichtflackern auf dem Straßenpflaster mitteilte.
Ein Spiegel der Zeit
Viele Werke im Buch spiegeln die Zeit, in der sie entstanden sind: Bei Rautenberg wirkt die Covid-Pandemie hinein, ebenso bei Sabine Hornigs Fotoinstallation "Quarantine" vom Februar 2021, die aus zahllosen einzeln aufgenommenen Ansichten von Wohnungsfenstern collagiert ist: "Separate lives". Und im Juli 2021 baute Sibylle Hofter ein "Corona Test Zentrum" hinter dem Fenster auf, möbliert mit bloß aus schwarzem Draht in den Raum gezeichneten Tischen, Stühlen und Schränken.
Die Reihenfolge der Werke im Buch folgt offenbar ästhetischen Kriterien, erzeugt Kontraste und Rhytmus, die Arbeiten sind nicht chronologisch sortiert. Die Kunsthistorikerin Angela Rosenberg hat trotzdem nicht unrecht, wenn sie schreibt: "In der Reihung erzeugen die Abbildungen ein Kontinuum, wie die Bildtafeln eines Comics, und es wird deutlich, was die Präsentationen so einzigartig macht, nämlich die unablässige Verhandlung über den Ort der Kunst, zwischen weißer Zelle und öffentlichem Raum, zwischen zerebraler und erlebter Fantasie". Die Texte im "100 Windows"-Band von Rosenberg, dem UdK-Professor Michael Fehr und von der Berlin-Weekly-Initiatorin Stefanie Seidl sind in englischer und deutscher Sprache abgedruckt. Die Begleittexte zu den Einzelwerken sind, ein kleines Manko, leider nur in Englisch verfasst.
Aktuell präsentiert im Kunstschaufenster das Moskauer Duo MishMash, bestehend aus Masha Sumina und Misah Leykin, eine Art Puzzle aus an Schnüren hängenden Land- oder Stadtkartenfragmenten. Die gemalten Teile sind, wohl mit Absicht, kaum zu identifizieren: "Die Geografie unserer Leben hat sich gezwungenermaßen geändert", schreibt das nomadisierende Duo, das es von Russland in die USA verschlagen hat und von dort nach Europa. "Der einzige verlässliche Ort ist bisher die Virtualität, das Netz", stellen MishMash fest. Eine gewisse Unzuverlässigkeit lässt sich auch Berlin attestieren, der hiesigen Kunst- und Galerieszene zumal, die von Schließungen, Neueröffnungen und Umzügen in angesagtere Quartiere geprägt ist: In Mitte können sie ein Lied davon singen. Aber das dreigeteilte Fenster in der Linienstraße 160 bleibt – als Garant für immer wieder überraschende Einsichten.