Stell dir vor, du beziehst ein Ferienhaus im Grünen, und im Wohnzimmer hängt ein Edward Hopper! Die von Tilda Swinton und Julianne Moore gespielten Freundinnen in Pedro Almodóvars "The Room Next Door" staunen, als sie Hoppers Ölgemälde "People in the Sun" an einer Wand entdecken: Irgendwie mumienhaft wirkende Menschen in Liegestühlen, die vor einer Berglandschaft den Sonnenuntergang erwarten.
Wahrscheinlich ist es nur eine hervorragend ausgeführte Kopie, bemerkt Ingrid (Moore), die in der modernen zweistöckigen Villa – zwei Autostunden von Manhattan entfernt – alles andere als ein Urlaubsvergnügen vor sich hat: Ihre Freundin Martha (Swinton) hat Krebs im Endstadium und sich im Darknet eine Todespille besorgt. Ingrid, die gerade einen autofiktionalen Roman über ihre persönliche Todesangst veröffentlicht hat, soll Martha während ihrer finalen Tage Beistand leisten – aber keine Sterbehilfe. Wenn es passiert ist, wird Marthas Zimmertür offenstehen, nichts soll nach ihrem Freitod darauf hinweisen, dass Ingrid in Marthas Plan eingeweiht war.
Almodóvar wäre nicht der gewiefte Erzähler, wenn er nicht mindestens einmal falschen Alarm auslösen würde: Die Tür steht offen, Ingrid stockt das Herz, sie findet dann aber eine im Liegestuhl auf der Terrasse schlummernde Martha.
Die klaren Farben des Edward Hopper
Erstmals hat der Regisseur, der am 25. September seinen 75. Geburtstag feiert, den Hauptpreis eines A-Festivals gewonnen. Und es gibt ja auch triftige Argumente für die Jury-Entscheidung, "The Room Next Door" mit dem Goldenen Löwen auszuzeichnen. Tilda Swinton ist grandios als todkranke Ex-Kriegsreporterin zwischen Überlebenswillen und Verzweiflung, Julianne Moore verkörpert souverän die verständnisvolle Freundin, die mit ihrem "Auftrag" hadert.
Hinzu kommen intelligente, bisweilen witzige Dialoge und eine Fotografie (Eduard Grau), die an die klaren Farben in der Malerei Edward Hoppers anknüpft. Wer indes einen filmischen Diskurs über das Sterbehilfe-Thema erwartet, wird enttäuscht. Die Story basiert auf der Behauptung, ein tödliches Gift ermögliche friedliches Sterben – eine wohl nicht direkt widerlegbare, aber doch fragwürdige These.
Warum finden die Fortschritte der Palliativmedizin im Film keine Erwähnung? Und warum ist die einzige Figur, die sich entschieden gegen Selbsttötung stellt, ein unsympathischer Polizist, der sich nach dem Todesfall Ingrid vorknöpft?
Nichts Geringeres als ein Meisterwerk
Man vermisst an "The Room Next Door" die Dialektik eines Michael Haneke, in dessen Cannes-Siegerfilm "Liebe" von 2012 übrigens Isabelle Huppert eine Nebenrolle spielte, die Jurypräsidentin der diesjährigen Venedig-Mostra. Nachvollziehbarer als der "Leone d’Oro" ist der Große Preis der Jury für "Vermiglio", der im gleichnamigen Bergdorf in den Dolomiten spielt. Für die am Ende des Zweiten Weltkriegs angesiedelte Geschichte um drei jugendliche Schwestern wurde die italienische Regisseurin und Drehbuchautorin Maura Delpero von ihrer eigenen Familiengeschichte inspiriert.
Ein stiller, vielschichtiger Film, der es schafft, auch die zwiespältigen (zumeist männlichen) Charaktere nicht herabzuwürdigen. Wenig überraschend fiel der zweitwichtigste Silberne Löwe an Brady Corbet. Der US-Amerikaner wurde als "Bester Regisseur" ausgezeichnet, und "The Brutalist" um einen der Hölle entronnenen Architekten, der ein unheimliches Holocaust-Denkmal erbaut, ist ja auch ein filmisches Meisterwerk.
Der Silberne Löwe für das beste Drehbuch geht verdientermaßen an Murilo Hauser und Heitor Lorega. Walter Salles führte Regie bei "Ainda estou aqui" (auf portugiesisch: "Ich bin noch immer hier"), der eindrucksvoll vom Verschwinden des Politikers Rubens Pava während der brasilianischen Militärdiktatur erzählt. Dabei nimmt er vor allem seine Ehefrau Eunice (fantastisch: Fernanda Torres) in den Fokus, der es gelingt, die nun vaterlose Familie zusammenzuhalten und den Regierungs-Schergen auf bewundernswerte Weise zu trotzen.
Bedrohte Weiblichkeit und die Ausbeutung von Frauen durch die Männer
Eine ganz andere, spröde Frauenfigur steht im Mittelpunkt des formal überaus kühnen zweiten Spielfilms "April" der georgischen Filmemacherin Dea Kulumbegaschwili. Nina (Ia Suchitaschwili) arbeitet als Gynäkologin und Hebamme in einem Provinzkrankenhaus, nebenbei führt sie heimlich Abtreibungen bei verzweifelten Schwangeren durch. Nina versteht sich nicht als "Beziehungsmensch" und zieht einer festen Bindung flüchtige sexuelle Begegungen vor.
Nachdem ein Baby kurz nach der Geburt gestorben ist – Nina soll dafür zur Verantwortung gezogen werden – gerät die Ärztin in eine Krise. Der Film oszilliert zwischen dokumentarischen Sequenzen (darunter die Schockszene eines Kaiserschnitts) und fantastischen Einschüben: eine monströs-faltige Frauengestalt entsteigt der Sumpflandschaft, wobei unklar bleibt, ob das Phantom die Protagonistin bedroht oder deren greisenhaftes, aus der Zukunft kommendes Alter ego darstellt. "April" ist ein faszinierender wie rätselhafter Film um Körperpolitik, bedrohte Weiblichkeit und die fortgesetzte Ausbeutung von Frauen durch die Männer.
Weiß der Henker, warum die Schauspiel-Preise auch in diesem Jahr noch "Coppa Volpi" heißen – benannt nach dem von 1932 bis 1943 amtierenden Biennale-Präsidenten Giuseppe Volpi, der ein lupenreiner Faschist war. In einer Festspielsaison, die sich ausdrücklich und in diversen Filmbeiträgen den Gefahren von Rechtsruck und Autokratie widmete (Italien unter Meloni kann ein Lied davon singen), kann der Schauspielpreis für Vincent Lindon kein Zufall sein.
Unverständlicher Nachwuchs-Preis
Der französische Schauspieler verkörpert in "Jouer avec le feu" einen alleinerziehenden Vater von zwei Söhnen, der entsetzt feststellen muss, dass einer von beiden in die rechte Szene abdriftet. Lindon überzeugt in dem Familiendrama von Delphine und Muriel Coulin ebenso wie Benjamin Voisin, der den jungen Neonazi nicht als gefühlskalten, sondern durchaus liebenswerten Halbwüchsigen spielt, dessen Mordtat umso verstörender wirkt.
Voisins differenzierte Performance wäre einen Marcello-Mastroianni-Award wert gewesen, den Nachwuchs-Preis, mit dem stattdessen sein 22-jähriger Landsmann Paul Kircher ausgezeichnet wurde. Warum nur? Der eindimensional agierende Hauptdarsteller des Wettbewerbsfilms "Leurs enfants après eux" überzeugt ebensowenig wie die ganze mit 144 Minuten quälend langatmige Coming-of-Age-Erzählung um den Arbeitersohn Anthony (Kircher) aus der französischen Provinz und seinen gleichaltrigen Gegenspieler mit Migrationshintergrund Hacine (Sayyid El Alami).
Die Gewaltneigung dieser Figur irritiert, weil das Drehbuch von Ludovic und Zoran Boukherma (die Zwillingsbrüder haben auch Regie geführt) kaum Motive dafür liefert: Gewollt oder ungewollt entsteht so ein rassistischer Subtext, der in Nicolas Mathieus Romanvorlage fehlt.
Der allererste Blümchensex-Thriller der Filmgeschichte
Insgesamt wurden gottlob nicht die "falschen" Filme ausgezeichnet (wenn der eine oder andere Publikums- oder Kritiker-Liebling leer ausgeht, ist das völlig normal). Weder die schleimige Hymne auf die italienische Porno-Industrie "Diva Futura" (mit Jeff Koons’ Exfrau Ilona "Cicciolina" Staller im Figurenensemble) noch "Joker: Folie à Deux" erschienen der Jury preiswürdig, und das ist gut so. Todd Phillips’ Sequel scheitert maßgeblich an Lady Gagas blassem Spiel.
Dagegen muss das Votum für Nicole Kidman (Coppa Volpi) als weise Jury-Entscheidung gewertet werden. Kidman spielt in "Babygirl" Romy, die CEO eines börsennotierten Robotikunternehmens, die sich auf eine Affäre mit einem deutlich jüngeren Praktikanten einlässt (als Samuel: Harris Dickinson). Sogar die Botox-Behandlungen der hier sehr überzeugenden Schauspielerin sind in die Filmhandlung eingebaut.
Der dritte Spielfilm der niederländischen Schauspielerin und Regisseurin Halina Reijn (die auch das Drehbuch schrieb) verfährt als angekündigtes "Erotikdrama" dennoch seltsam halbherzig, weil die libidinöse Obsession der weiblichen Hauptfigur nur behauptet, nie aber nur ansatzweise gezeigt wird. Romy steht auf Kinky Sex – aber auf welchen genau? Haben wir es bei "Babygirl" mit dem allerersten Blümchensex-Thriller der Filmgeschichte zu tun?
Ein starkes Festivaljahr
Die beste Nachricht vom Lido: 2024 war ein starkes Festivaljahr, das auch außerhalb des Wettbewerbs (Andres Veiels "Riefenstahl"-Dokumentarfilm, Joe Wrights Mussolini-Serie "M - Il figlio del secolo") mit großartigen Werken punkten konnte. Aber mit wenigen Ausnahmen war eben auch die Löwen-Sektion kraftvoll besetzt. Da hatte die Jury die Qual der Wahl – und ließ zwei wunderleichte Filmkomödien (mit tragischen Untertönen) links liegen: "Trois Amies" von Emmanuel Mouret aus Frankreich und den Beitrag "Kjærlighet" ("Liebe") des norwegischen Regisseurs Dag Johan Haugerud, dessen Originaldrehbuch erstmals eine Urologin (toll: Andrea Bræin Hovig als Marianne) zur Zentralfigur eines Kinofilms macht.
Venezianischer Wermutstropfen: Immer noch sind kaum Regisseurinnen vertreten. Aber das ist kein Lido-Problem, sondern ein Festival- und Filmbetriebs-übergreifendes Manko. Beim kommenden A-Event, der Berlinale im Februar, übernimmt immerhin eine Frau die künstlerische Leitung. Hoffentlich ein Fortschritts-Omen. Tricia Tuttle, wir zählen auf Sie!