Seine geheimnisvollste Installation sind die vier Stelen aus rostbraunem Stahl, die seit 2014 in der grauen Wüste von Katar in den Himmel ragen. Einen Kilometer sind die beiden äußeren Stelen voneinander entfernt, kaum von einem Punkt aus zu überblicken. Man ahnt sie eher im Dunst, wie Zeichen einer untergegangenen Hochkultur, die der Betrachter bestaunen, aber nicht mehr enträtseln kann.
Rätselhaft sind Richard Serras Stahlskulpturen durchaus. Das klingt paradox – denn sie wollen gerade nichts erzählen. Aber in ihrer abweisenden Strenge wecken sie beim Betrachter bange Fragen. Vor allem die nach der Standfestigkeit dieser vielfach gefährlich gekurvten, geneigten und überhängenden Ungetüme, deren Gewicht schon an der Dicke des gewalzten und gebogenen Stahls zu erahnen ist.
Vollends, wenn man sich in den Zwischenraum einer mehrteiligen Skulptur begibt, wie in Berlin jener vor der Philharmonie, kommt einen die Furcht an. Sie wird nur in Schach gehalten durch das Bewusstsein, dass Serras Skulpturen an vielen Orten und seit vielen Jahren stehen und keinerlei Unglück verursacht haben. Aber die Ur-Erfahrung des Unbekannten, Bedrohlichen, Gefährlichen bleibt eben doch.
"Erfahrung muss nicht vermittelt werden"
"Erfahrung muss nicht vermittelt werden", pflegte der Künstler alle Ansuchen um Erläuterung seines Werks abzuwehren. Die Stahlriesen sprechen schließlich für sich, was Material und Form angeht, und wie der Einzelne sich fühlt, ist ein jeweils eigene und einzigartige Erfahrung. Wenn Serra etwas mitteilen wollte, nahm er den stets bereit liegenden Zeichenblock und warf mit sicherem Strich aus Zeichenkohle oder dickem Zimmermannsbleistift ebenso spontane wie präzise Skizzen aufs Papier.
Mit Serras Skulpturen, die im Laufe der Jahrzehnte immer wagemutiger wurden, macht der Betrachter die Erfahrung von Raum, von Zwischenraum, von Gewicht, Last, Gefährdung und am Ende, wenn er etwa aus einer der "Verdrehten Ellipsen" und "Spiralen" des Spätwerks wieder herausgefunden hat, von Befreiung. Nein, wackeln oder kippeln tut da gar nichts, das scheint nur so; und wenn man sich dem Stahl nähert, springt die Schönheit der zugleich rauen und glatten, in allen Abstufungen von Rostrot und Braun oszillierenden Oberfläche ins Auge. Übrigens auch Druckgrafik hat er beherrscht, als Meister eines abgrundtief schwarzen Schwarz, einer Oberfläche, die – noch so ein Paradox – zugleich unauslotbar tief ist.
Richard Serra, 1938 als Sohn eines Werftarbeiters in Kalifornien geboren, hat die Schwerarbeit im Stahlwerk in die Höhe und Noblesse einer künstlerischen Tätigkeit geführt. Die Mehrzahl seiner Skulpturen ließ er seit den 1980er-Jahren in einem Werk im Siegerland walzen, wo man mit seinen immer komplizierteren Vorgaben hinsichtlich Neigung und Bogenmaß umzugehen wusste. Skandal erregte er anfangs mit noch sehr einfachen Formen hochkant aneinander gelehnter Stahlplatten wie "Terminal", deren Aufstellung in Bochum 1979 einen lokalen Entrüstungssturm entfachte.
Kein Mann der Worte
In späteren Jahren arbeitete Serra immer mehr für Innenräume wie das Guggenheim Museum Bilbao – wo er 2004/5 die vielteilige Installation "Matter of Time" in einem eigenen Gebäudeannex schuf – oder die platzgreifenden Lagerhallen seiner Galerie Gagosian. In solchen Räumen sind die Skulpturen zu groß, um mit flüchtigem Hinsehen erfasst zu werden, und zwingen zu zeitintensivem Umrunden und Eintreten. Das ist die Erfahrung, von der Richard Serra immer sprach, wohl in der amerikanischen Philosophie-Tradition eines John Dewey, die dem studierten Literatur- und Kunstwissenschaftler vertraut war. Nicht zufällig wählte ihn die American Philosophical Society 2012 zum Mitglied.
Er hat überall Ausstellungen bekommen, in Deutschland unter anderem im Münchner Lenbachhaus (1987) und der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (1992), als Höhepunkt die große Retrospektive im New Yorker MoMA 2007. Den Goslarer Kaiserring erhielt er bereits 1981, das war ein Statement zu der Zeit, als Serra aus den museumsinternen Anfängen seinen "Props" und "Splashes" in den öffentlichen Raum hinausgetreten war; der Goldene Löwe von Venedig folgte im Jahr 2001. Ebenso mehrten sich die Aufträge aus aller Welt für Skulpturen im öffentlichen Raum.
Jetzt ist Richard Serra 85-jährig in der Nähe von New York gestorben, wo er – wie er sagte – hauptsächlich seine beruflichen Dinge abwickelte. Gelebt aber hat er am liebsten in einer Kleinstadt an der Atlantikküste, kein Mann der Worte, sondern der Arbeit und der Bezwingung des nur scheinbar grobschlächtigen Stahls. Ihm hat er eine eigene, raue Poesie entlockt.