Im Zenit seines Erfolgs schafft ein Künstler nicht unbedingt seine besten Bilder. Als Willi Sitte Ende der 1960er in der DDR endlich anerkannt war, kreierte er Gemälde wie "Leuna 1969", in denen er die sozialistische Arbeitswelt feierte. Das Verfahren ist interessant: Die Chemikerinnen, Ingenieure, die Schornsteine, Rohrsysteme und Fabrikstorbögen auf dem Bild werden wie in einer Mehrfachbelichtung ineinander geblendet. Sitte sprach von "Simultanbildern", einer Ästhetik, die er aus dem Studium der Fotomontagen von John Heartfield oder der Malerei von Renato Guttuso entwickelt hatte.
Die Farbigkeit etwa von "Leuna" ist expressiv, der Pinselduktus spontan und dynamisch. Sitte war ein Könner, keine Frage. Aber als heutiger Betrachter quält man sich doch etwas mühsam in die Bildwelten hinein. Was positiv und fortschrittlich gemeint war, ist heute dazu angetan, Trübsinn auszulösen. Und jene Bilder, mit denen der "Rubens der DDR" dem nackten Körper und der Fleischeslust frönte, wirken aktuell auch nicht mehr so erotisch, wie der Maler es vielleicht empfand.
Über Kunst kann und soll aber gestritten werden. Wie ja auch über die politische Rolle des 2013 verstorbenen Willi Sitte immer noch gestritten wird. Seinen Ruhm als bedeutendster Maler der DDR neben Werner Tübke, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer kann ihm niemand nehmen. Von einer "Viererbande" sprachen böse Zungen. Künstlerische Erfolge und ein gewisser Draht zur Polit-Prominenz bedingten sich in der DDR nun einmal; wer nicht – wie Baselitz und Penck – in den Westen ging, musste sich den Verhältnissen anpassen.
"In Italien habe ich angefangen zu malen"
Am 28. Februar 1921 wird Willi Sitte als Landarbeiterkind im böhmischen Kratzau (heute Chrastava in Tschechien) geboren. Als Jugendlicher besucht er eine Kunstschule im nahegelegenen Reichenberg, später wechselt er an die Hermann-Göring-Meisterschule in Kronenburg in der Eifel. Aber Sitte kann als Sohn und Enkel von Mitbegründern der Kommunistischen Partei in Nordböhmen nicht über seinen Schatten springen.
Er eckt in Kronenburg an, fliegt 1941 wegen kritischer Äußerungen von der Kunstschule, wird zur Wehrmacht einberufen, landet erst an der Ostfront, dann in Italien. 1944 nimmt er Kontakt zu italienischen Partisanen auf und desertiert. "In Italien habe ich angefangen zu malen", hat Sitte später erzählt. "Ich hatte keine Ahnung von Malerei. Und da ich von der Zeichnung herkam - schwarz-weiß - bin ich bei der grauen Palette geblieben." 1946 stellt er mit großer Resonanz in der Mailänder Galerie Dedalo aus.
1947 zieht er nach Halle an der Saale – und bleibt zeitlebens dort. Sitte hat sich einmal als „verbohrter DDR-Bürger“ bezeichnet, dem als überzeugter Kommunist ein Leben in der Bundesrepublik unvorstellbar war. Ab 1949 lehrt er an der Hallenser Hochschule für Industrielle Formgestaltung, wird dort Professor, ab 1975 bis 1987 sogar Direktor der Sektion Bildende und Angewandte Kunst.
Multifunktionär und Parteiarbeiter
Seit Mitte der 1960er verkörpert Sitte das, was zur Wendezeit dann als "Staatskünstler" geschmäht wird. Er steigt ab 1964 aktiv in die Politik ein, was ihm einige Weggefährt:innen übel nehmen, wird Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR (1974-1988), ab 1976 Abgeordneter der Volkskammer, 1986 bis 1989 Mitglied des ZK der SED.
Als Multifunktionär und Parteiarbeiter nutzt er seinen Einfluss durchaus dazu, der SED gegenüber die Autonomie des Künstlerverbandes zu verteidigen. "Ich war nicht erpicht darauf, eine Funktion zu haben", sagte Sitte 1992. "Aber man konnte oben etwas bewirken. Je weiter oben, desto besser." Ein eiskalter Machtmensch und Apparatschik war er sicher nicht.
So nahm Sitte einige Künstler aus dem Untergrund in den Verband auf, um ihnen Arbeitsmöglichkeiten zu verschaffen. Mit seinem Kampf für "Freiräume im ästhetischen Bereich", wie es der Kunsthistoriker Wolfgang Hütt formuliert hat, machte er sich bei der DDR-Führung oftmals unbeliebt. Andererseits befürwortete Sitte 1976 die Ausbürgerung seines früheren Freundes Wolf Biermann und verunglimpfte die Kunstschaffenden um die Malerin Bärbel Bohley als "bekannte staatsfeindliche Gruppe". Noch 1987 forderte Sitte außerdem, "dem sozialistischen Realismus wesensfremde Darstellungen zurückzudrängen".
Vom Kubismus zum Realismus
Bis Mitte der 1960er gaben Künstler und Werk allerdings ein anderes, der sozialistischen Kunstdoktrin widersprechendes Bild ab. Wenn Sitte kein so überzeugter Kommunist gewesen wäre: Er hätte sein Glück im Westen machen können. In gewisser Weise hat er das auch, denn seine Kunst war auch bei Sammlern der Bundesrepublik gefragt, etwa bei dem Kölner Kunstmagnaten Peter Ludwig. 1977 wurden Werke der "Viererbande" sogar auf der Documenta 6 gezeigt, neben Arbeiten der ostdeutschen Bildhauer Jo Jastram und Fritz Cremer.
2019 belegte eine Doppelschau in der Rostocker Kunsthalle – "Motiv Mensch – Willi Sitte und Fritz Cremer im Dialog" –, dass sich Sitte zwischen 1950 und 1960 sehr intensiv mit der klassischen Moderne, insbesondere mit Fernand Léger und Pablo Picasso auseinandergesetzt hatte. Anders als in seinem fast barock anmutenden Schaffen ab den späten 1960ern, malte Sitte in seinem Frühwerk mit reduzierten Mitteln, bevorzugte kubistisch gebrochenen Kompositionen und schlug zeithistorische Themen an.
So thematisierte er die Flutkatastrophe in Italien, seiner "heimlichen Heimat" und stellte im heute verschollenen Triptychon "Lidice" das NS-Pogrom 1942 in einem Dorf bei Prag dar. Für die Werke dieser frühen Phase war Sitte heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Sein "Formalismus" hatte sich zu weit von dem ab 1948 staatlich verordneten Ideal des "Sozialistischen Realismus" entfernt. Farbenfroh und geschichtsoptimistisch sollte die DDR-Kunst sein. Sitte passte sich an.
Der sinkende Stern
"Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt", wurde in der Endzeit der DDR gelästert. Was Sitte Realismus nannte, galt anderen als Schönfärberei der realsozialistischen Misere. Sein Stern sank schon vor dem Mauerfall. Um 1988 spitzte sich der Konflikt zwischen der Realisten-Generation und dem Video- und Konzeptkunst-Nachwuchs in der DDR stark zu. Sitte trat als Künstlerverbandschef zurück. Die deutsche Vereinigung gab seiner Karriere den Rest. "Plötzlich war ich der Sündenbock", klagte der Künstler später. "An allem sollte ich schuld gewesen sein", gab er verbittert zu Protokoll.
Sein Kunst bleibt auch nach der Jahrtausendwende ein Stein des Anstoßes. 2001, zu seinem 80. Geburtstag soll es eine Retrospektive im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg geben, dem Sitte viele seiner Werke als Schenkung überlassen will. Doch es entbrennt ein Streit über seine Rolle in der DDR. Die Ausstellung wird vom Verwaltungsrat des Museums kurzfristig verschoben, der Künstler sagt sie ganz ab und zieht sich aus dem Kunstbetrieb zurück.
Der Eklat hat einen positiven Nebeneffekt: 2003 wird die "Willi-Sitte-Stiftung für realistische Kunst" eingetragen. 245 Gemälde, 180 Druckgrafiken und mehr als 1000 Handzeichnungen gehen an die Stiftung, die 2006 eine Galerie im Museum am Dornberg in Merseburg eröffnet (und nicht etwa in Halle, wo der Sohn der Stadt zeitweilig einen schlechten Stand hat). Inzwischen ist die Sitte-Stiftung aber insolvent, befindet sich aktuell in Liquidation. Die "Frankfurter Rundschau" meldete kürzlich, dass Sittes Witwe und Tochter sich gezwungen sehen, Werke aus der Stiftung in den Kunstmarkt zu geben. Mit dem Ende der Stiftung droht nun auch der Sitte-Galerie das Aus.
Obwohl seine Werke auf dem Kunstmarkt neuerdings wieder gefragt sind, sieht es eher düster aus mit Sittes künstlerischem Erbe. Was wird mit der realistischen Kunsttradition à la Willi Sitte, wie immer man sie bewertet, wenn die Arbeiten durch Verkäufe in alle Winde verstreut werden? Eine würdige Retrospektive soll es im Jubiläumsjahr jedenfalls geben: Die Ausstellung "Sittes Welt" eröffnet im Oktober im Kunstmuseum Moritzburg in Halle.