Computerspiele versetzen uns in andere Welten. Sie erzählen Geschichten, ermöglichen Reisen durch Galaxien oder erwecken emotionale Bindungen. Besonders beliebte Spiele gelangen zu ihrem Kultstatus, indem sie eine unvergleichliche Erfahrung bieten – ganz ähnlich der transzendierenden Erfahrung von Kunst. Während des pandemiebedingten Lockdowns haben die etablierten Spieleplattformen und -anbieter fortlaufend Zuwachs verzeichnet. Visuell spektakulär inszenierte Live-Konzerte auf Fortnite oder meditativ wirksame Beschäftigungstherapien in der kunterbunten Welt von Animal Crossing sind repräsentativ für den gegenwartsbewussten Zeitvertreib.
Doch auch das vergangenheitsverliebte Segment der Retro-Games floriert in der Branche: Alte Klassiker werden für neue Konsolen neu aufgelegt, Retro-Konsolen-Spieler organisieren Turniere und entwickeln Emulatoren (Programme, mit denen leistungsschwächere Konsolen beispielsweise auf dem Computer simuliert werden können). Für alle, die sich am Scheideweg zwischen Gegenwartsbezug und Spielenostalgie nicht festlegen wollen, gibt es nun den richtigen Ausweg: Willkommen im "World Wide Webb".
Von einer gefühlsverwandten Sehnsucht inspiriert entstand das neue Projekt des kreativen Hackers und Multimedia-Künstlers Thomas Webb. Ausgangspunkt des Spiels war Webbs Wunsch, ein durch die Pandemie zerrüttetes soziales Umfeld wieder beziehungsweise neu aufzubauen. Die digitale Einzelausstellung in der König Galerie wirkt gleichzeitig den coronabedingten Ausstellungseinschränkungen entgegen: Im "World Wide Webb" treffen Kunst und Gaming explizit aufeinander.
Was ist das "World Wide Webb"?
Entstanden ist ein Online-Community-Game, an dem jeder Mensch mit Internetzugang und ohne höhere Anmeldehürden teilhaben kann. Über jeden beliebigen Browser oder innerhalb der Instagram-App lässt sich das Spiel öffnen und über den eigenen oder einen fremden Account-Namen betreten. Empfangen werden die Spielerinnen und Spieler in einer verpixelten Welt, die an die Darstellungsweise der 8-Bit-Prozessoren früherer Konsolen-Klassiker aus den 1980er-Jahren erinnert: NES Master System, ZX Spectrum. In ebendieser Zeit war Thomas Webbs Vater, Martin Webb, als Spieleentwickler tätig und einige der frühesten RPG-Klassiker erlebten ihre Geburtsstunden: "Rogue" (1980), "Ultima 4: Quest of the Avatar" (1985), "Pool of Radiance" (1988), "Dungeon Master" (1987) und andere Perlen des Gaming-Geschichte.
In das Genre der Role Playing Games (RPGs) lässt sich auch "World Wide Webb" einordnen. Nach einer kurzen Einführung in die Steuerung navigieren Webbs programmierte Avatare die Spielerinnen in die König Galerie nach Berlin. Grundsätzlich spielt sich das Geschehen an drei Orten ab, an denen verschiedene Quests gelöst werden können: Berlin, Kanagawa und Osaka. An der Ortswahl und Gestaltung wird Webbs zugrundeliegende Nostalgie visuell nachvollziehbar: Anime, Manga sowie die ikonischen Welten der ostasiatischen Computerspielpioniere prägen das Erscheinungsbild von "World Wide Webb". Der persönliche Bezug des New-Media-Künstlers vermittelt sich sowohl über einzelne Elemente als auch konkrete Aufgaben im Spiel. So können Spielerinnen und Spieler beispielsweise ein Hoverboard erstehen oder die Quest im Dojo von Sensei Ohto lösen. Der Hintergrund: Webb ist selbst als Kind dem Kampfsport nachgegangen und zählt "Karate Kid" neben "Zurück in die Zukunft" zu seinen persönlichen Lieblingsfilmen.
Der persönliche Bezug Webbs setzt sich in diversen Elementen fort: Live-Sets der befreundeten Musiker Nic Fanciulli und Mall Grab erfüllen die Räume des im Spiel integrierten Clubs mit elektronischer Musik, der Dancefloor ist im Stil bildnerischer Neon-Werke Thomas Webbs gehalten. Die in der virtuellen König Galerie konzipierte Ausstellung "Exercise In Hopeless Nostalgia" versammelt zwölf digitale Werke Thomas Webbs, mit denen sich Spielerinnen und Spieler in Form integrierter Mini-Games auseinandersetzen und die werkbegleitenden Texte lesen können. Eine gehackte Google-Suchmaschine zeigt beispielsweise an, welche Stichworte in dem umstrittenen Tool aktuell am häufigsten gesucht werden – öffentlich macht Google diese Daten normalerweise nicht.
Ein Bitcoin-Rechner kalkuliert die derzeitige Gewinn-Quote für Echtzeit-Investitionen. Ein anderes Spiel adressiert die krisenaktuelle, gesellschaftliche Schieflage, in der sich Gesundheitssysteme befinden: In "Clap for Health Care Workers" können Spielerinnen und Spieler durch Berührung des Spielbildschirms für Angestellte im Gesundheitswesen applaudieren. Der aktuelle Rekord liegt bei 31,4 Tausend Klatschern, die Highscores werden in einer öffentlichen Liste geführt. Auf der dazugehörigen Texttafel ist Webbs Kommentar ebenso bissig wie treffend: "Die Geste [des Applaudierens] ist genauso ziellos wie eine preislose Liste anzuführen."
Enter the real world
Im virtuellen Galerieraum wird aber auch deutlich, zu welch wilden Realitätsbezügen, das Spiel tatsächlich in der Lage ist. Mit "World Wide Webb" möchte Thomas Webb schließlich rückläufige soziale Interaktionen und Bezüge zur Realität frisch aufstocken und nicht "nur" Einblicke in seine eigene, nostalgische Realität ermöglichen. Zwar besteht die "Hauptaufgabe" des Spieles darin, drei Schlüssel zu sammeln und sie dem im Spiel integrierten Webb-Avatar zu bringen, doch zu diesem Ziel führt kein lineares Handeln.
Im Vordergrund stehen Interaktion, Chat und Handlungsderivate für Real-Life-Aktivitäten, die manche Menschen einfach schmerzhaft vermissen: Wie das Anstehen vor Berlins legendärem Club "Berghain", nur um nach 60-sekündiger Wartezeit zu erfahren, dass man mit dem aktuellen Outfit nicht hineinkommt. Realitätsgetreu halt. Die Gespräche in der Warteschlange stehen dem realen Erlebnis tatsächlich in Nichts nach.
Was die Spieler aber nicht wissen: Im Hintergrund analysiert eine Künstliche Intelligenz (KI) den individuellen Spielverlauf und zieht über die spielinternen Entscheidungen der Spieler Rückschlüsse auf deren Interessen. Anhand des von Cambridge Analytica konzipierten Persönlichkeitstestes ermittelt die KI eine von 16 möglichen Persönlichkeiten und füttert das "World Wide Webb" mit neu generierten Avataren, die für die jeweiligen Spieler gefilterte Neuigkeiten aus der "echten Welt" wiedergeben.
Ein wahrhaft individuelles Erlebnis
Zwar gab es bereits zahlreiche Spiele, deren Verlauf und Welten durch aktive Entscheidungen der Spielerinnen und Spieler beeinflusst werden konnten ("FarCry 2", "Fallout 3", "GTA 5", "Dishonoured 2", und viele mehr), aber eine derart tragende Rolle haben individuelle Charakteristika von Spielerinnen und Spielern in der Entwicklung zuvor noch nie getragen.
Das darf nicht falsch verstanden werden. Es gab sehr wohl Spiele, die sich entlang den Fähigkeiten und Vorzügen ihrer Spielerinnen im Verlauf veränderten: Steven Polge programmierte 1996 mit dem "Reaper Bot" für Quake 1 die erste lernfähige KI, die in einem Computer-Spiel als gegnerische Entität integriert wurde. Über virtuell hinterlassene "Brotkrumen" konnte der "Reaper Bot" die eingeschlagenen Pfade nachvollziehen und sich so seinen Weg durch die generierte Karte bahnen und an die Fersen der Spieler heften.
Eine derart lebendige Verquickung von Realität und Spieleuniversum wie in "World Wide Webb" hat die Welt aber noch nicht gesehen. Abgesehen von der gleichermaßen barrierefreien Ansprache von Gamer, Digital- und Kunstbegeisterten, ermöglicht das Spiel einfach unvergleichbar mehr Menschen den Zugang – unabhängig von Ort, Mobilität und finanzieller Lage. Darüber hinaus sind die in der Ausstellung adressierten Themen und kritisierten Strukturen optimal in dem gewählten Format aufgehoben; wo ließen sich Befragungen digitaler Prozesse besser transportieren als in einem virtuellen Raum? Nach gerade einer Woche haben fast 50.000 Menschen die virtuelle Welt betreten und dort mehr Zeit verbracht, als die durchschnittliche Verweildauer vor einem Kunstwerk im Museum bemessen wird. Die Ausstellung "Exercise in Hopeless Nostalgia" im "World Wide Webb" dürfte ein konkreter Ausblick auf die Zukunft der Ausstellungs- und Vermittlungspraxis von Kunst sein.