Hinten an der Wand ein Plakat gegen den Brexit, links die fast abstrakte Aufnahme eines Wäschehaufens, auf dem Tisch Geschirr, Papier, Kekse, entlang der Fensterfront ein Pflanzenmeer: Wolfgang Tillmans empfängt in der Küche seines Berliner Ateliers, deren emphatisches Chaos wie ein Spiegel seines Werks wirkt. Das Spektrum des 1968 in Remscheid geborenen Fotografen und Künstlers reicht von intimen Stillleben, Porträts und Landschaftsaufnahmen bis zu skulpturalen Abstraktionen, Videoarbeiten und Musikprojekten.
Politisch war seine Arbeit immer schon. Doch in letzter Zeit hat sich Tillmans, der viele Jahre in London lebte, ganz konkret in das Weltgeschehen eingemischt. 2016 initiierte er eine Kampagne gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU, er meldete sich nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz zu Wort.
Wo beginnt die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements, wo liegen die Grenzen? Diese Fragen diskutiert Wolfgang Tillmans mit Chris Dercon, der seine letzte große Ausstellung als Direktor der Tate Modern mit dem Deutschen bestreitet.
Chris Dercon: Alexander Kluge hat mal behauptet: Erst kommt das Ohr, danach das Auge. Wolfgang, in den letzten Jahren äußerst du dich vermehrt sprachlich, etwa mit der Anti-Brexit-Kampagne, mit dem Meeting-Place-Projekt in deinem Ausstellungsraum Between Bridges, in Vorträgen, Essays oder Interviews. Also wie ist das mit dem Auge und dem Ohr?
Wolfgang Tillmans: Für mich ist Fotografie sowieso immer ein Nachdenken über die Welt. Nur dass ich das eben ohne Worte machen kann. Aber was da im Hirn kognitiv so abgeht, ist eigentlich immer ein Verhandeln, ein leises geflüstertes, noch nicht ausgesprochenes Abwägen: Ist das relevant oder nicht? Ist das signifikant für das Sein, unsere Zeit? Es kommt oft als Bild raus. Aber im richtigen Moment – und das ist eher im Gespräch als beim Alleindasitzen und Schreiben – kann der Gedanke genauso gut als Wort rauskommen.
CD: In den letzten Jahren sind wunderbare Bilder entstanden: Meeresaufnahmen, Horizonte, Wolken oder wolkenlose Himmel, die Fragen nach Grenzen und Trennungen reflektieren. Wann kommt der Moment, in dem du sagst: Solche Bilder reichen nicht aus, um meine Gedanken über das Weltgeschehen zum Ausdruck zu bringen?
WT: Das war ganz konkret vor einem Jahr in Portugal bei meiner Ausstellung "On the Verge of Visibility" im Serralves-Museum der Fall. Ich dachte: Zu dieser Zeit, in diesem krisengeschüttelten Land, in dem ich noch nie eine Einzelausstellung hatte – was ist die Botschaft, was will ich zeigen? Da habe ich mich für eine komplett monothematische Ausstellung entschieden über die Aggregatzustände von Wasser, von Licht, Himmel, Dampf, Wolken und den Grenzen, die der Horizont darstellt. Das ist für mich eine hoch aufgeladene Ausstellung gewesen, die ein großer Erfolg wurde, weil die Leute gespürt haben, dass diese Bilder jetzt relevant sind. Das ist das Tolle an Kunst: dass man manche Dinge mit höherem Alter oder erlebter Erfahrung irgendwie machen kann, die man vor 20 Jahren vielleicht nicht hätte machen können. Eine Ernsthaftigkeit und Schwere bei gleichzeitiger Leichtigkeit – das zu formulieren ist eben erst im Januar 2016 so möglich gewesen.
CD: Aber neben den Bildern kam im vergangenen Jahr auch der Drang, zu reden und zu schreiben – du hast dich ja in diversen Zeitungen zum Brexit geäußert.
WT: Im Februar hatte ich dieses Schlüsselerlebnis. Ich merkte, dass die Fürsprecher für den Verbleib Großbritanniens in der EU das komplett halbherzig tun. Sie sprachen nur über die Gefahren des Austritts, aber niemand brachte Argumente für die EU vor. Mir wurde klar: Wenn ich das nicht tue, wird das keiner tun. Das war ein irrer Schritt, denn obwohl ich mein ganzes Leben aktivistischer Sympathisant war, habe ich nie wirklich eine politische Rede gehalten oder konnte einen Slogan formulieren. In jenem Moment war es dann aber plötzlich sofort klar, und es war eine Leichtigkeit, innerhalb weniger Wochen 25 Poster zu entwerfen, unter anderem auch mit meinem Assistenten Paul Hutchinson. Wenn die Notwendigkeit so deutlich ist, dann gibt es auch kein Zurück, und es stellte sich auch nicht die Frage, ob das cool ist oder was das tut mit mir als Künstler und meinem Standing – das war mir wirklich alles scheißegal, denn es ging mir nur um das Ergebnis. Es ist mir weiterhin wichtig, Kunst zu machen und über Farbverläufe nachzudenken, aber gleichzeitig musste ein Teil meiner Energie dieser politischen Situation gezollt werden.
CD: Steckt darin auch eine implizite Kritik an deinen Kollegen, die das nicht machen? Die meisten Künstler sind politisch ja eher zurückhaltend …
WT: Ich will das nicht verurteilen, denn es kann nicht jeder. Warum soll man das dann von einem Künstler mehr verlangen als von einem Tischler oder einem Bäcker? Andererseits sehe ich mich und andere meiner Generation als Gewinner von unserer europäischen Jugend in den 80er- und 90er-Jahren. Und dies zu verteidigen ist tatsächlich eine Aufgabe, die sich nur jetzt stellt. Das ist ein Kairos-Moment.
CD: Was ist Kairos für dich?
WT: Der Moment, in dem nur Handeln zum Erfolg führt und Nicht-Handeln garantiert zum Nicht-Erfolg.
CD: Tom Holert nennt dich in seinem Katalogbeitrag einen "public artist", einen öffentlichen Künstler. Kannst du damit leben?
WT: Das ist eine Rolle, die ich mir in den letzten zwei, drei Jahren eingestanden habe. Vor zwei Jahren hat die "BZ" angefragt, sie wollten mir ihren Kulturpreis geben. Da dachte ich: "Nee, ich will eben nicht irgend so ein Celebrity-Künstler sein." Und dann schrieb der Chefredakteur zurück: "Aber das sind Sie doch schon!" Und dann wurde mir klar: Du bist eine Person des öffentlichen Lebens, und du willst es auch sein.
CD: Verstehst du das als eine Form von Gegenöffentlichkeit?
WT: Weiß ich nicht. Es ist einfach schlüssig dafür, wie ich mich in den vergangenen 25 Jahren in mediale Kunst involviert habe. Am Anfang gab es bei mir ja nur die introvertierte, medienbetrachtende Kunst. Die Schwarz-Weiß-Kopien formulieren ja rein kunstimmanente Fragen: Was ist die Oberfläche eines Bildes? Wie kommt Bedeutung in ein Blatt? Dann hab ich aber auch erlebt, was für eine irre Energie im Nachtleben und in House-Musik war. Diese Revolution, die 1988 stattfand. Und dann habe ich plötzlich eins und eins zusammengezählt. Mir wurde klar, dass diese Trennung von high und low art künstlich ist und du dahin gehen musst, wo die meiste Energie ist. Seither hab ich mich auch Zeitschriften zugewandt, weil ich dachte, das ist ein Verstärker. Man kann eben beides tun: ein Blatt Papier in der Dunkelkammer falten und eine Reportage über schwul-lesbische Aktivisten in Sankt Petersburg fotografieren. Deshalb habe ich mein Medium gewählt, deshalb bin ich dabei geblieben. Und das ist ein irres Privileg, dessen ich mir bewusst bin.
CD: Zurück zu deinen Anfängen in den 80ern. Du hast immer die Bedeutung der evangelischen Kirche für dich betont. Spielt das Religiöse noch immer eine wichtige Rolle?
WT: Die Bildhaftigkeit von fast aller Religion hat in den letzten 15 Jahren sämtliche Verbindung zu mir verloren. Die deutsche, evangelische Kirche ist vielleicht die freidenkendste organisierte Kirche, die noch versucht, die Dinge beim Namen zu nennen. Und damit natürlich auch ein Riesendilemma hat. Die einzige westliche Religion, die wirklich ehrlich für mich damit umgeht, sind die Quäker, die sagen: Kein Mensch kann interpretieren, was Gott will. Und deshalb wird in deren Meetings nicht gepredigt und gibt es auch keine Lieder, denn deren Texte oktroyieren schon wieder die Idee, dass der Herr das und jenes will. Weihnachten war ich in der Kirche und hab noch gedacht, was für eine wahnsinnige Geschlechterzuschreibung dort existiert, all dies Gerede von "Herrschaft" und "Dienen" und "dem Herrn" – ich kann da nicht mehr mit. Obwohl die Musik von Taizé etwa eine tief prägende Erfahrung für mich ist, ich hab sie heute früh erst wieder gehört. Insofern: Das Spirituelle ist ganz wichtig für mich, aber damit meine ich eigentlich nur: bescheiden anerkennen, dass es irgendein Geheimnis gibt; etwas, das ich nicht weiß über diese Existenz. Das Nicht-Wissen anzuerkennen und zu ertragen – das ist die schwerste Arbeit im Leben. Und deshalb vergoldet ein Herr Trump die ganzen Wände in seinen Häusern …
CD: Ich glaube, es gibt drei wichtige Worte, um dein Werk zu verstehen: Du bist ein Verstärker, das hast du selbst gesagt. Du verstärkst die Dinge. Die beiden anderen Begriffe wären: Verstrickt-Sein und Achtsamkeit. Kann man so dein Werk definieren?
WT: Es gibt wenige Kuratoren, die sich so auseinandersetzen mit meinen Gedanken, das ist schon beeindruckend …
CD: Es gibt ja noch einige Ideen hinter diesen drei Begriffen: Empathie, opferloser Humor, kein Zynismus, keine Wichtigtuerei, kein sinnloses Tun, Nacht als Raum von Freiheit, das Absurde akzeptieren, wie reagiert man auf etwas? Spielen diese Überlegungen immer mit?
WT: Ich muss dazu vielleicht noch ein Wort stellen, nämlich Spaß. Oder sogar Sex, um einen Teil des Spaßes genauer zu benennen. Sexualität ist ganz wichtig, gerade auch in der Selbstverständlichkeit, in der sie in meiner Arbeit immer da ist. Ich glaube, die meisten Probleme unserer Zeit kommen daher, dass viele Menschen nicht mit ihrem Körper und ihrer Sexualität im Reinen sind. Weihnachten hatte ich mit meinen Eltern echt gute Gespräche. Mein 86-jähriger Vater, ein lebenslang konservativer Mann, sagte, es ist ganz erstaunlich, wie körperfeindlich das ganze Christentum ist. In Indien hingegen gebe es überall diese riesigen Penis-Skulpturen …
CD: Kommt diese Einsicht mit dem Alter?
WT: Nee, das war mir schon früh klar. Du kannst die ganze Welt auf den Kopf stellen, wenn du alle Menschen erst mal auch als sexuelle Wesen siehst und alles vor einer sexuellen Motivation betrachtest. Als Schwuler aufwachsend, hat man es einfacher, wenn man sich diese Freiheit nimmt, denn dann erscheinen alle Männerrituale immer auch als Umkehrung dessen, was sie zunächst zu bedeuten scheinen. Was hat man denn als Manövriermasse als Mensch? Wenn du das nicht ertragen kannst, dann kontrollierst du andere und vielleicht noch dich selbst. Und andere kontrolliert man, indem man ihre Körper kontrolliert. Deshalb hat jede Form von Diktatur oder religiöser Unterdrückung immer etwas mit Körperkontrolle zu tun, ob das durch Militarisierung geschieht oder durch Sexualverbote. Da ist die ganze Scheiße der Welt begraben: von Islamismus über Putin und Trump bis zu genauso verklemmten deutschen Politikern.
CD: Was deine Auseinandersetzung mit der Welt kennzeichnet: Du bist kein politischer Aktivist à la Joseph Beuys oder Allan Sekula. Für dich ist langsames Engagement viel wichtiger.
WT: Man muss ja immer wissen, dass alles, was man tut, auch eine Geste ist. Als die Leute Ende der 90er-Jahre anfingen, mit den kleinen Kompaktkameras zu fotografieren, habe ich immer gedacht: Es geht ja hier nicht darum, ein Bild zu machen, sondern darum, gesehen zu werden beim Bildmachen. Du nimmst dir Kontrolle in diesem Moment, denn du machst hier aktiv ein Foto von dieser Situation. In diesem Sinn ist alles erst mal eine Geste. In dem Moment, wo ein Künstler sich zu gesellschaftlichen Fragen äußert, liegt darin auch ein Allgemeinheitsanspruch, den es natürlich kritisch zu hinterfragen gilt. Dessen bin ich mir sehr bewusst. Auf der anderen Seite ist man dabei auch verwundbar und darf sich nicht das Wort verbieten lassen nur aufgrund der Angst, kritisiert zu werden. Denn jemand muss sich ja zuständig fühlen. Das Problem unserer Gesellschaften ist, dass sich sehr wenige zuständig fühlen, Parteimitglieder zu werden und aktiv diese Gesellschaft mit zu gestalten. Davon bin ich selbst auch noch entfernt. Auch ich will politisch reden, bekenne mich aber nicht wirklich zu einem dieser Instrumente, die Gesellschaft gestalten. Und das sind Parteien.
CD: In dem Kontext war ich sehr verwundert, als du bei unserem Gespräch in den Münchner Kammerspielen im letzten Jahr von der Notwendigkeit guter Verwaltung sprachst. Was bedeutet das für dich?
WT: Das ist mir gerade bei meinem "Neue Welt"-Projekt klar geworden. Wenn man in Großbritannien lebt, wo 1000 Jahre Verwaltung und Rechtsordnungen bestehen, kann man nicht fassen, was es bedeutet, in Gesellschaften zu sein, wo die Machtträger korrupt sind. Wenn die Polizei dich nicht schützt, wenn die Verwaltung dich nicht versorgt mit Wasser und Strom. Daran hängt das tägliche Leben und das eigentliche Glück: Wie viel Vertrauen kannst du haben, dass diese Grundbedürfnisse bedient werden, damit du dich anderen Dingen widmen und dich entfalten kannst?
CD: In letzter Zeit trittst du in deinen Musikvideos auf, wendest du dich wieder stärker dem Performativen zu. Ist das Ausdruck von wachsendem Selbstvertrauen? Oder anders formuliert: Der Gesamtname deines Musikprojekts lautet Fragile, und du hast einmal gesagt: "When I am weak I am strong." Was bedeutet das Wort fragil für dich?
WT: Es beschreibt den Grundzustand, in dem wir sind. Die meisten Leute sehen vielleicht irgendeine Form von Stärke als Grundzustand, aber das eigene erst mal Nicht-Sein und innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen Vergänglich-Sein, das ist ja eigentlich die Grundsituation. Die eigene Fragilität habe ich als Teenager ganz früh und zutiefst verstanden. Wenn du das anerkennst, kannst du viel machen. Leute, die behauptet haben, sie hätten Kontrolle über sich oder andere, sind halt meist die Arschlöcher, die viel Kummer für andere schaffen oder auch selber irgendwann an ihre Grenzen stoßen. Alle Leute, die ich interessant finde oder die ich mag, haben einen Zugang zu ihrer zerbrechlichen Seite. Ich finde nichts langweiliger als Leute, die nur Stärke behaupten. Daher finde ich es schwierig, wenn du fragst, ob meine performativen Arbeiten mit einem stärkeren Selbstbewusstsein zu tun haben. Dahinter steckt natürlich eine Spannung, auch eine narzisstische Seite – ich muss ja nicht auf die Bühne, irgendwas in mir will das ja auch.
CD: Geht es bei deinen Musikprojekten auch um eine Art Professionalisierung von Dilettantismus – so wie bei manchem wildem Maler?
WT: Nein, da habe ich nie ein Interesse daran gehabt. Alles, was ich mache, muss auch gut sein. Das kann nicht nur legitimiert sein über die Qualität von etwas anderem, was ich gemacht habe.
CD: Bei der Arbeit an Ausstellungen mit dir ist es ja auch auffallend, was für ein Detailfreak du bist. Was bedeutet für dich, wenn etwas gut ist?
WT: Das benutze ich natürlich wissend, dass das niemals absolut gemeint sein kann. Gut ist für mich die Korrelation von Absicht oder Hoffnung und Resultat.
CD: Hat das vielleicht damit zu tun, dass du immer sagst: Kunst – gute Kunst – hat nichts zu tun mit einem Kunstwollen im Sinne von Sich-selbst-Ausdrücken, sondern Kunst muss eine Form von „contribution“ sein? Einen Betrag liefern. Du hast erzählt, wenn deine Studenten im Städel sagten, sie wollen sich ausdrücken, dann sagst du: Das wird nichts.
WT: Ja, denn das wollen wir alle. Man muss ja immer sehen: Wie viel Luft saugt man aus dem Raum. Wer sich ausdrückt, drückt – wörtlich genommen – ja Luft aus dem Raum. Das ist ja nicht neutral. Als junger Mensch glaubt man, man will sich ausdrücken, und das ist ja auch richtig. Sich Freiheit nehmen schadet anderen ja erst mal nicht. Aber ich denke immer, alle Menschen sind gleich. Das hört sich total banal an, aber was man für sich selbst in Anspruch nimmt, muss man auch allen anderen zugestehen. Wenn man Aufmerksamkeit nimmt, dann soll die nicht nur einem selbst dienen, sondern dem Zusammenleben förderlich sein.
CD: Ist das die "contribution"? Ist das gute Kunst?
WT: Ich sage ja auch immer gern: Das Tolle an Kunst ist, dass sie nutzlos ist.
CD: Und was meinst du dann mit "contribution"?
WT: Dass zum Beispiel das Beharren auf der Nutzlosigkeit von Kunst einen Raum für dieses Geheimnis des Daseins und das Geheimnis der Kunst schafft. Und allein das ist für mich Friedensarbeit. Denn das ertragen die Menschen am wenigsten. Dafür Raum zu schaffen ist friedfertig. Und eben nicht Leute kontrollieren.
CD: Für unsere Ausstellung haben wir mit unterschiedlichen Titeln gespielt: Erst hieß sie „Extended Praxis“, dann hatten wir "How does it feel?", danach ganz kurz: "I refuse to be your enemy". Und jetzt heißt sie einfach "2017". Warum?
WT: Ich habe in der letzten Zeit schon einige Slogans und Titel produziert, im Zuge der Brexit-Kampagne zum Beispiel. Jetzt wieder mit einer Art Sinnspruch um die Ecke zu kommen wäre eine Abnutzung. Für die Idee der Ausstellung war ganz wichtig, dass es sich um ein Bild des Jetzt handelt und keine Retrospektive. Dieses Jetzt definiere ich mit der Zeit, die im Jahr 2003 begonnen hat. Aber Gegenwart zu behaupten wäre wieder so ein Anspruch. Und dann ist mir aufgegangen, dass es eine schöne, poetische Absurdität ist, eine Ausstellung, die im Februar eines Jahres beginnt, nach dem Jahr zu benennen, obwohl dann wohl kaum Bilder aus dem Jahr drin sind. Sie spielt mit dem Gedanken von Jetzt.
CD: Und "gleichzeitig macht sie sich dadurch sofort verwundbar als angejahrt, überholt; etwas, was die Kunstwelt immer vermeiden will, indem sie Ewigkeit verspricht. Aber das Jetzt ist alles, was wir haben, und wir können uns niemals sicher sein, ob wir in der Zukunft noch relevant sein werden." Hast du geschrieben. Finde ich wunderbar.
WT: Finde ich auch gut.
CD: Die Ausstellung zeigt Werke ab 2003 – warum diese Zäsur?
WT: Anfang 2003 haben in vielen Städten der Welt sehr große Demonstrationen gegen den Krieg im Irak stattgefunden, mit Millionen Teilnehmern. Die Demo in London gehörte zu den größten Versammlungen, die jemals in Großbritannien stattfanden. Eine Masse der Bevölkerung hat gesehen, da läuft etwas falsch, und die Politik hat das Gegenteil getan. Und damit begann dieser Dauerkriegszustand, aber auch dieses dauernde Missverständnis zwischen Islam und Westen und arabischer Welt und Westen. Ein Basieren auf Fehleinschätzungen, auf Lüge, auf Misstrauen, welches den Zustand bestimmt, in dem wir heute sind. Die Flüchtlingskrise und viele andere Probleme heute lassen sich direkt auf den Irakkrieg zurückführen.
CD: In deiner Arbeit seit 2003 findet sich ein bestimmter roter Faden – es gibt mehrere –, und zwar dein Interesse für Ecken, Kanten und Falten – sei es in den abstrakten Bildern der "Lighter"-Serie, seien es die Falten von Jeans, Stoffen und Textilien. Gilles Deleuze hat über den Philosophen der Falte, Leibniz, geschrieben: Man müsse Leibniz’ Interesse für die Falten immer sehen als Verhandlung zwischen dem Expliziten und dem Nicht-Expliziten. Woher kommt dieses Interesse an den Ecken und an dem Gefalteten?
WT: Ich hatte bereits 1996 meine dritte Ausstellung bei Daniel Buchholz "Faltenwürfe" genannt. Und dann hatte ich mit Stefan Kalmár die Ausstellung im Kunstverein München 2007, die hieß zwar „Beugung“, aber da ging es eigentlich auch um die Idee von Falten. Ich habe mich komischerweise immer dagegen gewehrt, selber in Worte zu fassen, was mich interessiert an der Falte. An den Bildrändern interessiert mich die Frage: Wenn das etwas ist, was ist der Zentimeter daneben? Warum ist das dann nichts, oder was ist das dann? Man behauptet immer, das fotografische Bild hätte kein Volumen. Aber ich nehme es immer als einen ganz flachen Quader wahr. Das hat Volumen. Darüber kann ich sprechen: das unversehrte Blatt, wie es aus der Entwicklungsmaschine oder aus dem Fotokopierer kommt und wie es von da an bergab geht, um es mit Hildegard Knef zu sagen. Aber die Faltung, die Faltenwürfe – das habe ich nie in Worte fassen können oder wollen.
CD: Können verstehe ich, aber wollen? Hat das zu tun mit dieser Seele, von der Leibniz spricht? Dass die Falte die Repräsentation von der abstrakten Idee der Seele ist? Was passiert zwischen der Falte?
WT: Das ist vielleicht ein Geheimnis, was ich nicht stören will, weil es in der Tat die Verhandlung von Zweidimensionalität und Dreidimensionalität ist, und die ist ja eigentlich nicht auflösbar. Ich kann nie über eine vierte Dimension nachdenken. Und genauso ist dieses Verhandeln, wie sich etwas Flächiges mit der dritten Dimension verhält, ein Spannungsverhältnis. Ein endloses Mysterium, das ich nicht auflösen möchte. Warum so ein "paper drop" niemals langweilig wird, obwohl da nicht so viel drauf ist als Bild, muss ich nicht in Worte fassen. Das kann ich einfach so stehen lassen.
CD: Hier in deiner Küche hängt ein Bild von raffiniert gefalteter Wäsche auf dem Boden, es ist halb arrangiert. Man denkt immer, Tillmans fotografiert, was schon da ist. Aber Tillmans macht viele skulpturale Arrangements! Wie ein Stilllebenmaler im 17. Jahrhundert.
WT: Viele Leute glauben, dass ich die Sachen finde. Das könnte nicht weiter gefehlt sein, denn das ist nur eine Hälfte der Arbeit. Die andere Hälfte sind Arrangements, die Jahre dauern, wie ein begrüntes Fensterbrett, oder kleine Intervention, wie ein hingeworfenes Hemd. Es gibt kurze, seltene Augenblicke, in denen ich eine besondere Wahrnehmung habe für ein Kleidungsstück, und in dem Moment kann ich das überhaupt erst selber erhöhen.
CD: Diese sehr narrativ und sexuell aufgeladenen Szenen, wo dann nur noch Sneaker und eine Jeans auf dem Boden liegen wie am Morgen danach – sind die dann auch arrangiert?
WT: Aber genau so erzählerisch gibt es die Bilder gar nicht. Das ist in deinem Kopf. Aber das ist die Intention. Es gibt allerdings ganz viele Levels, und das ist vielleicht auch, was mich von anderen am deutlichsten unterscheidet. Dass es nicht einen Erzählmodus gibt, sondern 20. Und das wollen wir ja. Wir wollen nicht vom Künstler gesagt bekommen, was wir denken sollen.
CD: Ein anderer roter Faden in deinem Werk ist das Verwenden unterschiedlicher Größen. Sigmar Polke hat mal gesagt: Ein Bild soll nicht größer sein als ein Bett. Wann entscheidest du, welches Format ein Bild haben soll und ob es gerahmt werden soll oder nicht?
WT: Die Geste, die das Publikum und vor allem der Kunstmarkt am liebsten hätten, wäre, dass jedes Bild seine eindeutige und einzige definierte Größe hätte. Dem habe ich mich intuitiv von Anfang an entzogen, weil ich die Wahrheit empfunden habe, dass viele meiner Bilder in genau drei Größen funktionieren. Und das ist eine Kompliziertheit, die der Markt nicht so mag, als Unentschiedenheit und Vielheit. Aber das ist für mich eben ein Zulassen der Wirklichkeit: dass die Bilder in verschiedenen, aber nicht willkürlichen Größen kommen können.
CD: Heute haben wir uns zum Beispiel einen Raum in dem Tate-Modell angeguckt, und du hast dich für ein kleines Porträt von Michael Clark statt des größeren entschieden. Das hatte für mich nichts mit Größe zu tun, sondern mit Maßstab.
WT: Das Interessante bei jeder gegenständlichen Abbildung ist, dass sie immer einen Maßstab hat zu dem abgebildeten realen Objekt oder Menschen. Das ist ein großer Teil der Übersetzungsleistung, die ja das Kunstmachen ist: diese reale Welt in ein Bildobjekt zu verwandeln. Und das ist eine Verschiebung, mit der man den Betrachter konfrontiert. Michael exakt in Lebensgröße, kleiner oder größer zu zeigen ist alles interessant. Aber in der Situation, in dem Raum wurde mir klar, dass es besser klein ist.
CD: Und gerahmt und nicht gerahmt?
WT: Nachdem bis 1999 alles ungerahmt war, setzte ich seither auch auf diese Koexistenz von beidem, weil beides interessant sein kann. Es hat wirklich eine besondere Präsenz, wenn ein Blatt einfach so an der Wand hängt, aber es ist auch wiederum toll, wenn ein Bild gut gerahmt ist, und das sagt dann etwas anderes. Ich wehre mich eigentlich in meiner Arbeit ständig gegen diese Behauptung von: So muss es sein und nicht anders.
CD: Du hast mal gesagt: "Was unwichtig und was wichtig ist, ist nicht klar. Es ist alles Teil einer größeren Welt." Das ist sehr konträr dazu, wie die meisten Künstler denken.
WT: Das tue ich aus dem Vertrauen heraus, dass die wichtigen Bilder sich sowieso zeigen werden.
Monopol: Wir schauen die ganze Zeit auf dieses Plakat zur Brexit-Kampagne, auf dem steht: "What is lost is lost forever." Was bleibt von dieser Kampagne, von dieser Enttäuschung? Wie kann es funktionieren, sich einzumischen?
WT: Das wäre ja schlimm, wenn jedes Engagement, das nicht zum gewünschten Erfolg führt, im Nachhinein als nicht wert angesehen würde. Was es genützt hat, wird man nie benennen können in Ziffern. Aber ich will das auf alle Fälle weitermachen, weil die vagabundierende Anti-EU-Stimmung eine enorme Bedrohung für mein Leben ist. Und natürlich diese gesamte Polarisierung der Welt, das Erstarken von autoritären Stimmen. Man muss sich darüber nichts vormachen. Wir haben es nicht mit einem so komplexen, vielschichtigen Ding zu tun, sondern mit dieser einen Sache: dass es wieder Leute gibt, die autoritäre Strukturen bevorzugen oder anderen aufoktroyieren. Es gab eine erstaunlich lange Zeit, nämlich 60 Jahre in den westlichen Ländern, in denen sich das immer weiter zurückgezogen hat und immer mehr Minderheiten ihre Rechte ausdrücken konnten. Der Erfolg von diesen 60 Jahren ist irgendwann zum Rekrutierungsruf geworden für Leute, die das genau nicht wollen. Die wollen autoritäre Strukturen, die wollen gelenkte Demokratie – das schöne Wort von Putin –, und das hat alles wieder mit Sexualität, mit Gesellschaftsordnung, Hierarchien, Geschlechterverhältnissen zu tun. Es ist wichtig, den Blick zu schärfen darauf, dass es hier nicht um Partikularfragen geht, um die Obergrenze von Herrn Seehofer oder um dieses oder jenes, sondern ganz klar um die Frage: ein liberales, freizügiges Weltbild oder ein autoritäres Weltbild? Und dass wir uns da im September 2017 bei der Bundestagswahl ganz klar entscheiden: Diese Parteien stehen für das eine, jene Parteien für das andere. Und darüber denke ich gerade nach, wie ich das weiter hinkriegen kann, das auszudrücken. Hass oder Pauschalurteile bringen ja nichts. Ich habe mal irgendwo gelesen: Niemand hat sich jemals davon beruhigt, dass man ihm sagte, er solle sich beruhigen.
CD: In München hast du gesagt: „Ich möchte zu einem emphatischen Weltverständnis beitragen. Natürlich sollten wir immer das Leben so angenehm wie möglich machen, deshalb machen Philosophie und Politik Sinn. Und meine Beziehung zur Wirklichkeit ist immer in erster Linie eher ethisch als technisch oder rein ästhetisch. So wie ich die Welt fotografiere, so verhalte ich mich ihr gegenüber auch ansonsten.“
WT: Ja, das trifft es.
Protokoll: Elke Buhr und Sebastian Frenzel