Der litauische Pavillon auf der Venedig-Biennale ist schwer zu finden, aber wer da war, wird ihn kaum wieder vergessen. Von einer Galerie schaut man auf einen künstlichen Strand herunter, auf dem Darsteller normale Stranddinge tun. Allerdings singen sie dabei eine Oper über den Klimawandel, der ihnen den Urlaub versaut und die schönen Korallenriffe ausbleicht.
Die drei Macherinnen dieser hintersinnigen Verführung, die mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, sind die litauischen Künstlerinnen Rugilė Barzdžiukaitė, Lina Lapelytė und Vaiva Grainyté. Wir haben mit zwei von ihnen gesprochen.
ei der Preisverleihung zum goldenen Löwen haben Sie über die Wichtigkeit von Beziehungen, und über Liebe und Freundschaft als essenziell menschliche Eigenschaft gesprochen. Die Venedig Biennale zeigt dagegen ehereinen pessimistischen Blick auf unsere heutige Welt und die Zukunft. Werden wir alle zu pragmatischen Maschinen?
Rugilė Barzdžiukaitė: Darüber kann man nur spekulieren. Wir versuchen, eine Interpretation unserer Werke zu vermeiden und so den Raum für alle möglichen Gedanken, Ideen oder Kommentare zu geben.
Lina Lapelytė: Ich glaube nicht, dass wir unsere Menschlichkeit verlieren und zu Maschinen werden. Unser Stück baut auf Vertrauen und Beziehungen. Die menschliche Welt kann nur von Wesen mit menschlichen Fähigkeiten gestaltet werden, mit Empathie. Wenn ich an die Zukunft denke, ist es wichtig, diese Botschaft weiterzutragen. Die Arbeit hat mehrere Schichten. Sie will mit nichts konkurrieren, sie umarmt die Dinge. Wir versuchen immer, uns um die Menschen zu kümmern, die an der Produktion mitarbeiten. Alles, was man gibt, kommt irgendwann zurück. So möchten wir gern das Werk und die Welt um uns herum sehen.
Wie haben Sie die Performer ausgesucht?
RB: Wir haben ein Casting veranstaltet. Wir haben 100 Sänger nach Venedig eingeladen und dann ungefähr 20 ausgesucht, mit denen wir die Proben begonnen haben. Die meisten sind Profis, aber nicht unbedingt Opernsänger. So arbeiten wir; wir mischen Pop, Jazz und Operngesang.
Lina Lapelytė, Sie haben die Musik für das Stück geschrieben. Können Sie etwas über den Arbeitsprozess erzählen?
LL: Alle drei von uns arbeiten an verschiedenen Elementen des Stücks, also haben wir sehr spezielle Aufgaben, aber versuchen trotzdem, alles miteinander zu besprechen und zu entwickeln. Nach dem Casting mussten wir entscheiden, welche Geschichte jeder Charakter erzählen soll. Wir mussten verstehen, wer diese Leute wirklich sind. Der Text und die Musik basieren auf den realen Charakteren. Im Zentrum steht die Idee, dass jeder aus seiner persönlichen Sicht sprechen kann, alles andere wird um diesen Vorsatz herumgebaut. Die Musik folgt diesem Konzept und schafft eine selbstständige Parallel-Erzählung.
Warum haben Sie den Strand als Setting gewählt? Ist er eine Utopie, ein Ort außerhalb der Routine, an dem man seinem Alltag entkommen und vergessen kann?
RB: Er ist ein sehr realer Ort. Der Strand hat für uns alle eine spezielle Funktion. Man geht an den Strand, weil Sommer ist und man nach der Arbeit ein bisschen Sonne und Entspannung sucht. Die Leute ziehen sich aus, sie verlieren ihre Uniform. Am Strand sind Dinge erlaubt, die es sonst nicht sind. Der Raum hat für alle spezielle Codes, sodass Gewohnheiten verschwinden. Wir beobachten diesen bekannten Ort von oben, aus der Perspektive der Sonne, aus einem nicht-menschlichen Winkel, der den Ort surreal und seltsam macht.
Die Darsteller in Ihrer Installation existieren in einer sehr positiv aufgeladenen Umgebung, singen aber melancholische Lieder. Einer ist von seinem Leben gelangweilt, eine andere ist von der Arbeit ausgelaugt oder einfach verloren. Glauben Sie, dass die schier unbegrenzten neuen Möglichkeiten der Gegenwart die Menschen selbstsüchtiger und ignoranter machen?
RB: Wir haben viele verschiedene Charaktere in unserem Stück. Was Sie beschreiben, ist der Typ der reichen Frau, die um die Welt reist und sich für nichts begeistern oder interessieren kann. Ihre Motivation ist, ein schönes Korallenriff zu finden. Ein anderer Performer singt Lieder über das Problem, älter zu werden und sich dem Ende des Lebens zu nähern. Verschiedene Rollen helfen dabei zu verstehen, wie unterschiedlich Menschen mit den Problemen unserer Zeit umgehen.
LL: Gleichzeitig greifen die Probleme einfach so weit. Sich auf große Strukturen zu verlassen und exzessiv zu konsumieren ist für fast jeden von uns viel zu einfach. Es fühlt sich bequem an, und es ist extrem schwer, diese Komfort-Zone zu vermeiden, vielleicht fast unmöglich. Natürlich können wir kleine Dinge ändern, aber es gibt keine echte Möglichkeit für radikalen Wandel, wenn wir nicht alle gewohnten Strukturen ersetzen.
Ist der Strand diese Idylle, oder ist er eine ironische Metapher für das Ende der Welt, das was übrig bleibt, wenn wir alles aufgebraucht haben?
RB: Der Gedanke, die Welt aufzubrauchen, hat uns tatsächlich beschäftigt. Er ist eine der zentralen Ideen des Stücks. Aber an der Oberfläche ist es sehr fröhlich. Wir haben versucht, verschiedene Ebenen von Verstehen und Emotionalität zu kombinieren, ohne moralisierend zu werden. Wir haben auch versucht zu zeigen, dass Konsum nun mal zuallererst Spaß macht. Als Künstlerinnen wollen wir nicht so tun, als seien wir nicht Teil davon. Wir sind nicht anders oder besser als andere. Unser ganzes Team ist mit dem Flugzeug nach Venedig gereist und wir haben sicher einen riesigen Co2-Abdruck hinterlassen, um diesen Pavillon zu realisieren.
LL: Der Strand wird aber tatsächlich ein ironischer Ort. Eine Frau singt über den Ozean, der plötzlich so schöne Farben hat, die sie vorher nie gesehen hat. Der Ozean ist voller Plastik, das kann man auch als seine Art von Schönheit betrachten. Es war uns wichtig, nicht nur eine Antwort auf die Frage zu geben, was dieser Strand repräsentiert.
War der Klimawandel von Anfang an das bestimmende Thema für das Projekt?
RB: Das hat sich mit der Zeit entwickelt. Das Werk sollte einen Zusammenhang zwischen dem Körper der Welt und dem Körper der Menschen aufbauen, da war der Klimawandel das logischste Thema, das auch mit der Sonne und dem Meer zusammenhängt und so zeigt, wo der Wandel eigentlich passiert.
Wie gehen die litauische Gesellschaft und die Regierung mit so wichtigen Themen wie dem Klimawandel und dem Konsum um? Haben Sie das Gefühl, dass es ein Bewusstsein für die Probleme gibt oder spüren Sie eine Ignoranz, die in Ihrem Werk ja auch vorkommt?
RB: In den baltischen Ländern gibt es sicherlich mehr Ignoranz gegenüber dem Thema Klimawandel als im Westen. Die Politiker hier wollen ignorante Konsumenten erziehen, keine kritisch denkenden Individuen.
Kommen Sie als Künstlerinnen aus dem Baltikum mit dem politischen System in Konflikt, oder ist es dort schwierig, an Fördergelder zu kommen?
RB: Wir haben hier keine so scharfen Auseinandersetzungen mit der Politik. Hier gibt es nicht wirklich Künstler, die die Politik in so radikaler Weise kritisieren wie zum Beispiel in Russland. Aus einer finanziellen Perspektive hat die Kunst bei der Regierung nicht unbedingt Priorität. Es gibt in Litauen ein System für Kunstförderung, aber das Budget ist recht klein.
Was sind Ihre nächsten Pläne, werden Sie weiter zusammenarbeiten?
LL: Wir warden sehen, was als Nächstes kommt. Wir versuchen tatsächlich, uns nicht zu überarbeiten. Wir wollen nicht im Produktionsdruck enden. Jede von uns hat die Möglichkeit, an ihren eigenen Projekten zu arbeiten, in ihrem eigenen Rhythmus. Wir versuchen, nichts zu überstürzen und uns auch nicht drängen zu lassen. In gewisser Weise ist das auch ein Widerstand gegen das System. Es gibt diese Erwartungen, dass Künstler schnell sehr viel produzieren sollen. Sie sollen immer in Form sein, um noch mehr produzieren zu können. Aber es gibt gar nicht so viele Ideen auf der Welt. In der Kunst geht es nicht unbedingt immer um Produktion.
War der Goldene Löwe eigentlich eine Überraschung, oder haben Sie heimlich damit gerechnet?
LL: Es war tatsächlich eine riesige Überraschung. Für so ein kleines Land wie Litauen ist es etwas sehr Besonderes, einen so großen Preis zu gewinnen. Wir sind keine Star-Künstlerinnen und es war kein Einzelwerk, sondern eine Kollaboration. Dahinter stand keine große Galerie, es war sehr aufrichtig. Und es war sehr aufregend und berührend, die Reaktionen des Publikums zu sehen.