Abramović-Biografie

Wie man in Zeitlupe pinkelt

Foto: Shelby Lessig, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12133867
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Marina Abramovic 2010 im MoMA New York

Eine, die ohne Ironie durch Mauern geht: Die Performance-Ikone Marina Abramović legt ihre Autobiografie vor

In ihr steckten "drei Marinas", schreibt die berühmteste Performancekünstlerin der Welt. "Da ist die Kriegerin. Da ist die Spirituelle. Und da ist die Jammertante." Dem Leser ihrer Autobiografie mag es schwerfallen, diese Selbsteinschätzung restlos nachzuvollziehen: Von Wehleidigkeit ist in den Erinnerungen von Marina Abramović keine Spur. Aber das Stichwort "Jammertante" verweist auf die private Abramović, und gerade über ihr nicht archiviertes Leben jenseits des Kunstrahmens möchte man mehr erfahren. Diese Lücken füllt die Autorin.

Die Kriegerin und die Spirituelle sind dem Publikum wohlbekannt. Die 1946 in Belgrad geborene Künstlerin ist immer hart gegen sich selbst gewesen. 1974 in Neapel bot sie dem Publikum an, mithilfe diverser Gegenstände mit ihr anzustellen, was es will. Darunter ein geladener Revolver, mit dem sie um Haaresbreite erschossen worden wäre. 1981 sitzt sie sich mit ihrem Partner Ulay während einer Galerieperformance in Sydney 16 Tage lang für jeweils acht Stunden an einem Tisch gegenüber. "Nachdem ich Ulay zwei Stunden lang angestarrt hatte, bemüht, nicht zu blinzeln, sah ich eine Aura um ihn herum", notiert sie, "eine hellgelbe, leuchtende Farbe."

Konzeption und Realisation von Performances, Auftritte in Museen, auf Festivals rund um den Erdball, Flops und Triumphe wie das mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Rinderknochenschrubben auf der Venedig-Biennale 1997: Abramović nimmt ihre Leser mit auf eine Reise zu den wichtigsten Stationen von Leben und Karriere. Sie lernt 1972 auf dem Edinburgh Festival Joseph Beuys kennen, lässt sich drei Jahre später von Hermann Nitsch in Wien mit Schafsinnereien und Blut überschütten ("es war Nitschs Ding, nicht meins"), freundet sich mit Laurie Anderson und Susan Sontag an. Abramović lebt in Amsterdam, Paris und New York. In Workshops und als Professorin – acht Jahre in Braunschweig – gibt sie ihre Erfahrungen weiter. Typische Übung: "Mach einen Tag lang alles in Zeitlupe: gehen, Wasser trinken, duschen. In Zeitlupe zu pinkeln ist sehr schwierig, versuche es aber trotzdem."

Schilderungen ihrer Jugend beeindrucken

Marina ist die Tochter jugo­slawischer Kriegshelden: "Sie hatten mit den Partisanen gegen die Nazis gekämpft, Kommunisten, angeführt von Tito, deswegen wurden sie nach dem Krieg mit wichtigen Ämtern betraut." Trotz der Privilegien, die die Familie genießt, hat die Tochter es nicht leicht. Schläge sind an der Tagesordnung, die Mutter exekutiert ihren Ordnungszwang, der Vater ist oft mit Geliebten unterwegs. Offensichtlich wurzeln Abramović' Strategien in frühen Erlebnissen: Vom Vater bekommt sie eine Damenpistole zum 14. Geburtstag geschenkt und lädt einen Schulkameraden zu einer Partie russisches Roulette ein. Ihren ersten Sex plant sie ähnlich minutiös wie später ihre Performances. Sie will sich entjungfern lassen, aber nicht verlieben und dann sitzen gelassen werden und sucht sich einen Jungen aus, "der viel Sex hatte – der dafür bekannt war".

Sie und Ulay lernen sich 1975 in Wien kennen und trennen sich 1988 mit einem letzten Handschlag, nachdem sie 90 Tage lang auf der Chinesischen Mauer aufeinander zugelaufen sind. Etwa 120 Buchseiten widmet die Künstlerin ihrer zwölf Jahre währenden Leidenschaft. Das Paar tourt als "zweiköpfiger Wanderzirkus" in einem alten Polizeibus durch Europa. Man ist schwer ineinander verliebt, doch oft fliegen die Fetzen. Ulay ist zunehmend frustriert, da sein Anteil an den Gemeinschaftsarbeiten oft unterschlagen wird. Sie überlässt ihm zunächst das gemeinsame Archiv, wirft ihm später Eigennutz vor. Für 300 000 DM, so die Künstlerin, habe sie kurz nach der Jahrtausendwende das Archiv von ihrem Expartner gekauft. Ulay, schreibt sie, habe Verkäufe nicht mit ihr abgesprochen und ihren Anteil an den Erlösen nie bezahlt. Ulay kreidet ihr jedoch inzwischen dasselbe an – und hat gerade einen Prozess gewonnen. Ein niederländisches Gericht hat Abramović dazu verurteilt, ihn an Einnahmen zu beteiligen und seinen Namen zu nennen.

1979, in guten Tagen, reist das Paar nach Australien. Die erste Begegnung mit Aborigines erlebt die Künstlerin als Kulturschock, "They look like dinosaurs", vertraut sie ihrem Tagebuch an, übernimmt die grenzwertige Formulierung später auch ins Buchmanuskript. Diesen August wurde der – von einer Korrekturfahne abfotografierte – Satz geleakt. Ein Shitstorm entlud sich gegen die Künstlerin, die die Passage dann löschte. Dass sie "größten Respekt für das Volk der Aborigines" empfindet, wie sie in einem Statement postete, geht aus den Buchpassagen über ihre Zeit im Outback ohnehin hervor. Die These, Abramović sei eine Rassistin, wirkt absurd und hysterisch.

Abramović neigt zur Selbstüberhöhung

Wie kritisch die Künstlerin den Abramović-Kult seit den 90er-Jahren sieht, ist schwer einzuschätzen. Der Trubel um ihre Langzeitperformance während der MoMA-Retrospektive "The Artist Is Present" scheint für sie das zwangsläufige Resultat ihrer Arbeit zu sein – in einem 721-Stunden-Gewaltakt im Museum zu sitzen. "Berühmtheiten kamen an meinen Tisch. Lou Reed. Björk. James Franco" – man hat nicht den Eindruck, dass sich Abramović über den pompösen Rahmen für ihr im Kern existenzielles Konzept Gedanken macht.

Immerhin stört sie sich im Nachhinein daran, dass eine ihrer Performances – gegen Gebühr natürlich – in einer "Sex and the City"-Folge nachgespielt wurde: "Obwohl ich zwölf Tage gefastet und wirklich versucht hatte, mit 'The House with the Ocean View' das Bewusstsein der Leute zu verändern, wurden die Performance und ich damit unweigerlich banalisiert." In ihrem Buch neigt sie mitunter zum Gegenteil, zur Selbstüberhöhung. Trotzdem liest es sich spannend.