Mit 14 habe ich angefangen mit dem Dichten, mit 16 – immer noch verkannt! – empört und beleidigt wieder aufgehört. Aber ich habe damals nicht einfach aufgegeben, sondern dichtend aufgegeben. Ich schrieb eine zehnstrophige Elegie, die mit den Zeilen begann: „Feuer, nimm an meine Schriften / auf dass sie nicht die Menschheit vergiften!“ Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr, und ich kann auch nicht nachschauen, weil ich die Blätter tatsächlich verbrannt habe, im Garten beim Grab unseres Hundes Mopsi-Strupsi, auch so ein armes, verstoßenes Biest wie ich.
Erst mit 18 schrieb ich wieder Verse, weil mir da die Menschheit egal wurde und nur noch Katharina zählte, ein für unsere Stadt unglaubliches Mädchen. Ein Dreivierteljahr lang, also neun Mal, durfte ich sie in jeder Vollmondnacht im Wald, auf dem Friedhof oder auf einem zerwühlten, ehemaligen NVA-Truppenübungsplatz treffen, damit wir uns gegenseitig Gedichte von Rimbaud und Trakl und eben eigene Lyrik vorlasen.
In den vergangenen Frühlingswochen musste ich wieder an diese Nächte denken. Ausgelöst wurden diese Flashbacks durch erneutes Dichten: Der Künstler Saâdane Afif hat mich gemeinsam mit anderen Kritikern, Kuratoren und Künstlern beauftragt, einen Songtext zu schreiben, der jetzt im Leopold-Hoesch-Museum in Düren (bis 23. November 2014) und auf der Berlin Biennale in den Museen Dahlem (bis 3. August 2014) als Wandtext ausgestellt ist. Die Lyrics begleiten und beschreiben ein Objekt: das ebenfalls präsentierte Modell eines Bahnsteigs des Dürener Bahnhofs, mit Laterne und einem Schild mit der Aufschrift „Düren“. Vorgabe war nicht allein, das Objekt zu bedichten, sondern auch das Thema „hier“ zu treffen.
Was könnte prosaischer sein als eine Laterne mit dem Ortsschild von Düren! Düren, ein interessantes Reimwort zwar, aber als Stadt erstmal kaum verlockend (auch wenn ich noch nie da war). Was für Gottfried Benn die Insel Palau, für Else Lasker Schüler Bagdad war – Düren ist das Gegenteil davon.
Zwei Tage habe ich an dem Gedicht gesessen. Der große Philip Larkin hatte schon recht, wenn er sich aufregte: „Poetry is nobody’s business except the poet’s, and everybody else can fuck off.“ Die Leute fuhren in die Osterferien, es regnete, die Sonne schien, ich saß über einem vollgekritzelten Blatt Papier. Es würde grade jetzt doch viel leichter fallen, die Ferne zu preisen, als das Hier, in dem ich allein mit dieser ultraprätentiösen und mir fremden Kulturrechnik war.
Aber ich hatte zugesagt, und wollte Saâdane nicht enttäuschen. Was fiel mir also ein? Das Hier ist Verrat an der besseren Dichtung, die stets das Dort will. Was Entwicklungsromane so interessant macht: Deren erstes Kapitel beginnt am leeren Bahnsteig unter einem Schild, auf dem der Name des Kaffs steht, in dem man zufällig geboren wurde, und es endet in Selbstverwirklichung oder dem Wissen um deren Unmöglichkeit. Der erste Schritt und das Tollste ist dabei immer der Weg von der Klein- in die Großstadt, von der engen Heimat in die Weite, wohin die Katharinas dieser Welt schon vor einem aufgebrochen waren – nur fort von den Dürens dieser Welt.
Solange man sein Leben als Entwicklungs- oder Bildungsroman sieht, ist alles gut. Denn der fortwährende Glaube an Selbstverwirklichung schützt einen vor der langsamen Verblödung im Angekommensein, und man kann alle Tiefschläge des Lebens als Stationen auf dem Weg begrüßen.
Nur hat diese Verwandlung des Ichs in eine Romanfigur auch Tücken: Man kommt dann eben nie so richtig an, kann sich nicht zurücklehnen oder verfällt gar in streberhafte Selbstoptimierung. Also gut, probiere es mal: Das hier ist dein Leben, Düren, deine Dependance der Wirklichkeit! Binde deine ewige Sehnsucht, die dich für etwas Besseres als Düren hält, an die berühmte Laterne, knüpfe sie auf wie einst die Aristokraten bei der Französischen Revolution!
Diese Laterne markiert einen Ort wie die Pins auf Google Maps oder sonstige geografische Orientierungshilfen. Das Schöne an ihr ist, dass sie darüber hinaus noch eine Funktion hat: Sie beleuchtet das Hier. Als würden die beide Funktionen zusammenfallen: Wer „hier“ sagt, hat auch Licht.
Und damit hatte ich meinen Songtext dann fast beisammen. Am Ende waren es drei Strophen, ein bisschen verklausuliert und metaphernlastig vielleicht. Aber es reimte sich immerhin.
Ich schickte den Songtext in den Lyrik-TÜV, zu einem echten Dichter und Lektor, den ich mal bei einer Vernissage kennengelernt habe. Er antworte mit einer langen Mail, in denen er Verständnisschwierigkeiten offenbarte und das Metrum anzeichnete, so dass Unregelmäßigkeiten sichtbar wurden:
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Meine Herzergießungen sahen jetzt aus wie ein Strickanleitungen. Weitere zwei Tage habe ich an den Hebungen und Senkungen herumgeschraubt. Der grausame Dichter beendete immerhin seine Mail mit einem Trost: „Der Reiz der Regeln ist natürlich auch, dass man sie, wenn man sie gesetzt hat, durchbrechen kann.“ Und so ließ ich es dann gut sein.
Die einzigen Hebungen und Senkungen, auf die ich in jenen Vollmondnächten meiner Jugend achten musste, waren die von Katharinas Brustkorb: Wurde ihr Atem tiefer, war das Gedicht gut. Manchmal wurde daraus sogar ein Schnurren, manchmal ein Seufzen.
Also los, sollen wir es probieren?