Lana Del Reys neues Album "Norman Fucking Rockwell!" ist benannt nach dem Künstler, der den amerikanischen Traum illustrierte. Warum die beiden ein stimmiges Paar abgeben
Lana Del Rey ist die Königin des Zitats. Auf ihren Alben singt sie sich quer durch den amerikanischen Kanon. Ihr aktuelles ist da keine Ausnahme: Liedzeilen von Cindy Lauper und Leonard Cohen reihen sich an Gedichtverse von Robert Frost, dazu namedropt sie Crosby, Stills and Nash, Sylvia Plath – und Norman Rockwell, dessen Name durchbrochen von einem Kraftausdruck als titelgebender Song das Album eröffnet. Eigentlich ist es verwunderlich, dass Rockwell erst auf Del Reys sechstem Studioalbum Erwähnung findet, prägten seine Malereien doch maßgeblich das Bild Amerikas, das die Sängerin in ihrer Musik immer wieder heraufbeschwört.
Rockwells Karriere begann in jungen Jahren als Illustrator bei "Boy's Life", der offiziellen Zeitschrift der US-Pfadfinder.
Schon in seinen ersten Auftragsarbeiten fand sich jener blühende Patriotismus, der auch seine späteren Werke für die "Saturday Evening Post" prägte. Von 1916 bis 1963 gestaltete er die Titelseiten des konservativen Blatts und prägte im goldenen Zeitalter der Illustration und der Konsumkultur die Bildwelt des amerikanischen Traums. In seinen Malereien zeigte er, wie er es selbst beschreibt, "das Amerika, das ich kenne und beobachte": kleine Mädchen, die ihre Mutter beim Frisieren beobachten, Polizisten, die von zu Hause ausgebüchste Nachwuchs-Vagabunde einfangen und erstmal auf einen Milchshake einladen.
In seinen 47 Jahren bei der "Evening Post" fing Rockwell idyllische Alltagsszenen ein, die von den Lesern geliebt und von den Kritikern als Americana-Kitsch abgetan wurden. Werke wie "Undecided Voter", in denen er das politische Tagesgeschehen aufgreift, sind heute Historiengemälde. 1941 verarbeitete der Maler die "Four Freedoms", für die Franklin D. Roosevelt in seiner Rede zur Lage der Nation versprach in den Krieg zu ziehen, in kleinstädtische Alltagsszenen. Die Bilder übersetzten abstrakte Konzepte wie die Redefreiheit und die Freiheit von Not in Bilder bürgerlicher Partizipation und Großfamilien in vorfreudiger Erwartung des Sonntagsbratens. Die Werkserie wurde zu Rockwells berühmtester Arbeit und tourte durch die USA, um bei den Bürgern um Kriegsanleihen zu werben.
Dass Idealbild und Realität oft meilenweit voneinander entfernt liegen, musste Rockwell im Zuge der Bürgerrechtsbewegung feststellen. Die "Evening Post" untersagte ihm, Afroamerikaner zu malen, sofern sie nicht als Arbeiter im Dienstleistungssektor auftraten. 1963 wechselte er zum liberaleren Magazin "Look" und nutzte die Zugänglichkeit seiner Genremalereien fortan vermehrt, um auf gesellschaftspolitische Missstände aufmerksam zu machen.
Für "Look" schuf er mit "The Problem We All Live With" ein ikonografisches Werk der Bürgerrechtsbewegung. Das Bild zeigt Ruby Bridges, die als erste afroamerikanische Schülerin eine öffentliche Weißen-Schule in New Orleans besuchte. Das kleine Mädchen im gestärkten weißen Kleid steht im Zentrum des Bildes, vier Marshalls eskortieren sie vorbei an einer mit zerplatzten Tomaten und rassistischen Graffiti beschmierten Wand. Auf Bridges Anraten hin zog das Gemälde unter Barack Obama viele Jahre später ins Weiße Haus ein.
Aber auch die früheren, weniger politischen Arbeiten Rockwells sind historische Relikte, weil sie ein idealisiertes Selbstverständnis Amerikas abbilden. Am eindrücklichsten verdeutlicht das wohl "Saying Grace", das mit 46 Millionen Dollar teuerste aller Rockwell-Gemälde. Es zeigt eine ins Gebet vertiefte Großmutter und ihren Enkel, neugierig beäugt von den draufgängerischen Teenagern, die sich mit ihnen den Diner-Tisch teilen.
Jene harmonische Zusammenkunft unterschiedlicher sozialer Gruppen in bodenständiger Umgebung ist der Inbegriff des Amerika in Rockwells Frühwerk, das es in seiner grenzenlosen Idylle so nie gegeben hat. In jenen Bildern steckt eine Nostalgie für eine nie eingelöste Gegenwart, die perfekt zu Lana Del Reys hauntologischer Amerikavision passt.
Während Taylor Swift sich in ihrem Musikvideo zu "You Need to Calm Down" über Rednecks lustig macht, zitiert Lana Del Rey Rockwells romantischen Blick auf die provinzielle Mittel- und Arbeiterklasse herbei. Was bei Rockwell die Greaser, Seemänner und Soda Jerks sind, das sind bei del Rey die Poeten aus dem Laurel Canyon und die Obdachlosen des New Yorker Stadtteils Bowery: Nationalhelden eines fiktiven Amerikas, deren Menschlichkeit die beiden Künstler mit liebevollem Blick einfangen.
"Goddamn, Manchild" singt Lana Del Rey und trifft so schon mit der ersten Strophe ihres Albums punktgenau den Zeitgeist. Die Popsängerin hat den Mann endlich von seinem Podest gehoben und setzt sich auf überraschend zeitgemäße Weise mit Männlichkeitsbildern auseinander. "You don't ever have to be stronger than you really are," versichert sie ihrem Geliebten in "California" und befreit ihn damit von toxischen gesellschaftlichen Erwartungen, in "The Greatest" kritisiert sie männlichen Narzissmus und Größenwahn exemplarisch mit der Zeile "Kanye West is blond and gone."
Das ist nicht der einzige explizite Verweis auf das Hier und Jetzt: Im Musikvideo zu "Venice Bitch" blitzen Smartphone-Taschenlampen in Filmaufnahmen auf, in "hope is a dangerous thing for a woman like me to have but I have it" besingt sie iPads und Livestreams. Und doch verleihen die psychedelisch-behutsamen Instrumentals ihren Songs eine Aura der Zeitlosigkeit.
Nach der schiefen Woodstock-Coachella-Analogie auf ihrem letzten Album "Lust for Life" ist der Sängerin auf ihrem jüngsten Album nun endlich die Perfektion ihrer transzendenten Americana-Vision gelungen. Im Traumland Amerika betritt der amerikanischste aller Maler gerade irgendwo eine Bar während Lana Del Rey von ihrer Cherry Coke aufblickt und ihn mit einem undurchdringbaren Lächeln und den Worten "Norman fucking Rockwell!" begrüßt.