An der Entourage hätte ich ihn erkennen müssen. Sie bewegte sich nur langsam voran, in ihrer Mitte ein trippelnder, bärtiger Mann, hinter einer Brille blinzelnd, blinzelnd im Sinne von: Komme mir keiner zu nahe! Wie alt mochte er sein, 75, 80? O nein, der Mann, der soeben an mir vorbei war und nun inmitten der Entourage langsam die Treppe hochstieg, das war Lars von Trier. Wir sind eine Generation. Für die nächste Dreiviertelstunde war die Ausstellung geschlossen, das heißt nur für bestimmte Leute offen, und Sofia oder wie sie hieß, eine knöcherne falsche Blonde von der Filmproduktionsfirma Zentropa, sorgte dafür, "dass er seine Ausstellung in Ruhe allein anschauen kann".
Für ein halbes Jahr hat man eine lang gezogene Halle, die auch ein Filmstudio sein könnte, in einen Parcours verwandelt, eine ganze Stadt von Stellsystemen mit MDF-Blenden, die dann wieder Videoinstallationen Platz machen. Die erste wiederholt auf zwölf schwebenden Tafeln eine Kernszene aus "Melancholia", die letzte ist ein Oktagon, aus dessen Mitte heraus ein seltsames Potpourri der berühmteren Filme anzuschauen ist. Die größte Ausstellungswand, geheimnisvoll beleuchtet, gehört der Sammlung internationaler Poster zum Kinostart von "Breaking the Waves". Musikalisch beginnt es mit Wagner, wird zur Mitte hin übertönt von Björks asthmatischem Gesang und schließt am Ende mit einem Loop der Händel-Arie "Lascia, ch’io pianga", die meine liebste war, aber nach drei Stunden in dieser Ausstellung dann nicht mehr.
Es ist immer wieder ein besonderer Moment, wenn ein Museum und eine externe Gruppe kollidieren – oder verschmelzen, je nachdem, wie man es sieht. Bis heute bin ich davon überzeugt, dass das Nobelpreiskomitee Bob Dylan nicht ausgezeichnet hätte, wenn es gewusst hätte, dass er nicht kommen würde. Immerhin, Lars von Trier war erschienen, leibhaftig, und insofern war alles in trockenen Tüchern. Gegen Abend spricht der Direktor – er hatte mir noch am Morgen die Hand gereicht und gesagt, er heiße Mads – vor einem riesigen Stoffplakat, das den Filmregisseur als jungen Mann zeigt, dann spricht der Kurator, und vor dem Holzpodium, in der ersten Reihe der Zuschauer steht er, Lars von Trier, reglos, und wird nichts sagen. So wie Jil Sander in Frankfurt am Main. Einfach nichts. Aber er ist da.
Ausstellungen über Rock ’n’ Roller, Dichter, Modedesigner und Filmstars versetzen Museen in einen Ausnahmezustand. Was der- oder diejenige bedeutet, ist an anderer Stelle schon gesagt, und zwar in idealer oder mindestens spektakulärer Weise. Sonst nämlich würde sich das Museum für diese Person gar nicht interessieren. Das erhöht die Erwartung. Es verschärft den Auftrag. Jede mediale Ausstellung lebt von einer ästhetischen Krise. Hier sind wir, was es nicht unbedingt leichter macht, im Land seiner Herkunft. Am richtigen Ort auf jeden Fall: Das Museum namens Brandts ("Bränts") widmet sich den Medien.
Von Trier hat die Dänen erreicht mit einer Fernsehserie, die "Riget" heißt, auf Englisch "The Kingdom". Auf Deutsch hätte sie "Das Reich" heißen müssen, wurde aber "Hospital der Geister" genannt. "Das Gute mit dem Bösen" ist die Ausstellung im Brandts betitelt und stellt, noch im Foyer, ein Videoloop vorweg, das Lars von Trier vor einem roten Vorhang zeigt, nach Hitchcocks Masche zum Publikum sprechend, und am Ende hebt er die rechte Hand, Zeige- und kleiner Finger dabei nach oben gestreckt. Der gehörnte Teufel. Er lächelt geheimnisvoll. Na ja, ironisch. Dann beginnt das Video – in der Serie der Epilog jeder Staffel – von vorn.
"Hospital der Geister" handelt nicht von ganz Dänemark, aber taugt als Allegorie. Die Serie spielt in einem Krankenhaus, dessen Leitung ein schwedischer Arzt übernommen hat. Das muss man sich vorstellen wie einen Deutschen in der Schweiz. Er führt das Krankenhaus so vernünftig, wie er kann. Es ist aber nicht beherrschbar, entweder weil die Dänen unproduktive Spinner sind oder aber sensible Seelen, deren Entstellungen zu übersehen der guten Sache nicht dienlich sein kann. Ein zweites Motiv des Konflikts – oder der Entgrenzung – liegt im Reich des Unheimlichen, wie bei Kleist oder Poe oder E.T.A. Hoffmann: Das Krankenhaus wurde, gegen bessere Einsicht, in ein Moor gebaut, in dem der Geist eines früh gestorbenen Kindes spukt. Das Gute inmitten des Bösen im Fall dieser Serie liegt in ihrer ungeheuren Komik, die den böse karikierten Dänen eine letzte Nische der Deutung lässt – dass es anders auch gar nicht hätte kommen können. Das Schicksal ist vorgezeichnet.
Und dies ist der Kern des Werks des Lars Trier (den Adelstitel hatte er sich als Student selbst verliehen): eine Verknüpfung von Gesellschaft und Trieb, Leidenschaft und Abgrund. Anders als diese Serie ist keiner seiner Kinofilme komisch, und selbst als Ironiker hat sich Lars von Trier letztlich nicht durchgesetzt. In der Vitrine seiner Lieblingsbücher finden sich Nietzsches "Antichrist", die "Histoire d’O" von Pauline Réage und "Inferno" von August Strindberg. Weder ist er als Filmerzähler der seelischen Entgrenzung herausgekommen wie John Cassavetes noch ein Szenograf des Grusels geworden wie Alfred Hitchcock.
Von Triers Filme handeln nicht nur von Angst, aber sie ist immer da. Nicht spielerisch, sondern elementar. Mit zwölf Jahren scheint ihn eine Sozialphobie befallen zu haben. Man liest im Brief der Mutter an die Schule: Lars könne nicht mehr kommen und werde für das beginnende Jahr privat unterrichtet. An der Kopenhagener Universität sei er durch "Arroganz" aufgefallen, erinnert sich der Herausgeber des Katalogs, Peter Schepelern, bei der Pressekonferenz in Odense.
Eine Weile habe er gebraucht, um zu erkennen, mit wem er es zu tun habe, und dann habe er, damals, auch gleich ein Buch über ihn geschrieben. Die literarischen Manuskripte, die von Trier selbst an die großen Verlage Schwedens verschickte – mit Anfang 20 –, kamen mit mehr oder weniger freundlichen Briefen zurück. Man kann wirklich nicht behaupten, dass sich dieser Mann in "seiner" Ausstellung nicht zu erkennen gebe: eine putzige Phalanx biografischer Vitrinen mit Dokumenten – im Original.
Es gibt auch die kinomuseumsmäßig üblichen Requisiten vom Set, so wie das Mofa aus "Breaking the Waves", Björks gehäkeltes Kleid aus "Dancer in the Dark" und das Sofa, auf das Charlotte Gainsbourg zwecks gewünschter Misshandlung in "Nymphomaniac" geschnallt wird. Das auffälligste Dingsda aber bleibt ein weiblicher Unterleib mit leicht gespreizten Beinen, ergänzt durch ein dokumentarisches Video, das dessen Schöpfer zu Wort kommen lässt. Das Kunststoffsurrogat musste in einem einzigen Take funktionieren, in dem die Kamera im Close-up zeigt, wie sich eine Frau mit einer Schere selbst die Klitoris abschneidet, und ein Apparat war von innen so montiert, dass sofort eine rote Flüssigkeit herausschießt. Das Requisit aber wurde in gesäubertem Zustand verwahrt und sieht, im Vergleich mit seiner Verwendung, eher harmlos aus.
In "Antichrist" hat sich Lars von Trier ans Horrorgenre gewagt. Dabei ist eine kristalline, märchenhafte Szene in Schwarz-Weiß entstanden, in der bei Nacht und Schneefall ein kleiner Junge eine Mondfahrt antreten möchte, aber wie in seinem eigenen Traum, slow motion, über mehrere Stockwerke zu Boden taumelt. Seine Eltern, dargestellt von Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg, versuchen in einem therapeutischen Tableau ihre Schuld abzuarbeiten, rutschen aber als Besucher ihrer Berghütte in einen Taumel von Sex und Gewalt, während die erzählerischen Splitter einer unheimlichen Vorvergangenheit die Logik der Paarbeziehung von innen aufbrechen – und zugleich das Narrativ. "Freud is dead!", ruft der Ehemann und Psychoguru, "Yeah!", antwortet seine Frau, und der Erfinder dieser brutalen Parabel lässt die Zuschauer mit der Frage allein, ob er zeigen will, dass alle Analysen am Bösen zerschellen müssen, oder ob man fällig ist für die Hölle, wenn man sich von einer diskursiven Durchdringung dunkler Gefühle ohne Notwendigkeit verabschiedet. Lars von Trier, der hier David Lynch ein bisschen zu sehr beleiht, war übrigens niemals in den USA.
Nimmt man die leichtfüßigen Entfremdungsfabeln Nanni Morettis, das sozialkritische Lichtspiel von Mike Leigh und die humanistischen Melodramen Pedro Almodóvars, hat man einen umfassenden Gegenentwurf zum Kino Hollywoods und seiner geölten Genres. Dass die gültige nordische Variante eines mit allen Wassern gewaschenen Autorenkinos in den vergangenen 30 Jahren ausgerechnet aus Dänemark kommen sollte, hätte niemand vorhersagen können. Man sollte die wortkargen Gesellschaftsmärchen des Finnen Aki Kaurismäki als fruchtbare Vorläufer preisen, magische Symbole eines skandinavischen Sonderwegs. Die Dänen glaubten vor 20 Jahren, sich einem superveristischen Kino verpflichten zu müssen, das die gespielte Szene wie ein soziales Dokument behandelt, etwas, das man im Rohzustand erfassen muss und danach nicht mehr verändern darf. Kurios, dass sich Lars von Trier zum Fürsprecher von "Dogme 95" machen ließ, der befrackte Funktionär und Unterzeichner eines bornierten Manifests. Noch ist dieses Werk nicht vollendet, das auf vier Trilogien angelegt war, zu den Themen "Europa", "Goldene Herzen", "Land der Möglichkeiten" und "Depression".
Etwas beleidigt war ich ja schon, dass mein Lieblingsfilm "Breaking the Waves" zu den "Goldenen Herzen" gehört. Die Schau wartet hier mit einem dokumentarischen Kleinod auf, nämlich einem nur wenige Minuten langen Video, das Emily Watson beim Vorsprechen für die Rolle der Bess McNeill zeigt. Das bleiche Gesicht dieser jungen Frau mit schmalen Lippen, das jederzeit mit Kulleraugen ins Clowneske springt! Hier sitzt sie in einem neonbeleuchteten Büroraum, das Drehbuchmanuskript in der rechten Hand, in Zwiesprache mit dem Herrn im Himmel. Rollen die Augen nach oben, spricht sie zu ihm; dann schließt sie die Augen fast, der Mund ein verbogener Sichelmond, und murmelt mit tiefer Stimme den Part der Figur, die auf verdächtige Weise abwesend bleibt. Angesiedelt zwischen Drama und Melodram, auf der Kippe von Psychoverismus und Popkitsch, erzählt "Breaking the Waves" die Geschichte dieser Frau, die soeben sexuelle Lust entdeckt und diese – durch ein Bohrinselunglück, das ihren Ehemann lähmt – schon wieder aufgeben muss. Was sie aber nicht tut. Sie mutiert zur Erfinderin ihrer psychosexuellen Biografie, die sie in den Abgrund ziehen wird.
Dieser Film spaltet das Publikum, auch Paare. Für manche ist die Kreuzung von Religion und Sexualität uninteressant, für die anderen zwingend. Das Faszinierende an dem Vorsprech-Video: dass Watson bereits in ihre Rolle gefunden hat. Lars von Trier, anfangs obsessiv mit dem Detail beschäftigt, ein Maniker am Set, war längst zu einem Regisseur geworden, der große Talente anbaggert und sie dann machen lässt. Ganz genau so wird sie ihren Part in der Film-Kirche sprechen, beide Rollen im Wechsel, sich selbst und Gott.
Im Sinne dieses Stoffs hat die isländische Musikerin Björk in von Triers Regie einen Opfermodus gesehen: "Er braucht Frauen, um seinem Werk Seele zu geben, und er beneidet sie und hasst sie dafür. Also muss er sie beim Filmen zerstören und die Spuren verwischen." Diese Beobachtung findet sich als Zitat im dänischen Katalog. Allerdings war Björk im Jahr 2000, als "Dancer in the Dark" herauskam und in Cannes die Goldene Palme gewann (und in den Jahren danach), sehr entschieden darin, die Sache nicht persönlich zu nehmen. "Wenn man mit Lars alleine ist, ist alles in Ordnung, aber wenn andere dazukommen, ist das eine andere Geschichte." Der Konflikt am Set beschränkte sich auf einen Tag, berichtete sie, und ging nicht ums Spielen, sondern darum, wie ihre Musik geschnitten wurde. "Was sie damals gesagt hat, ist überhaupt nicht das, was sie heute sagt", bemerkt dazu Peter Schepelern vor der versammelten Presse, und es gibt niemanden, der auch nur grinst.
Ohne Weiteres lässt sich dieses Werk zu Videoinstallationen collagieren und in forsche Thesen gießen. Und zwar, weil es ein großes Ganzes darstellt oder vielleicht auch nicht darstellt, sondern sich auf ein solches bezieht. Das ist am deutlichsten zu erkennen in "Melancholia", einem nordischen Hotel-Schloss-Drama, dessen erster, wackliger Teil – Dogma Handkamera – eine Hochzeit beschreibt, deren unverschämt launische Braut (Kirsten Dunst) das Fest in ein soziales Desaster rutschen lässt. Einziger Grund, sich ihrer zu erbarmen, sofern man möchte: Sie ist depressiv! Im zweiten Teil – visuell schwer am Boden, zentriert, große Ansichten – wird der Anflug eines anderen Planeten mit den Augen eines Kindes betrachtet, eines Jungen, der zuerst erkennt, dass der Planet die Erde nicht passieren, sondern zerstören wird. Die verbleibende Zeit wird in einem horrorhaften Endzeitszenario minutiös beobachtet – Charlotte Gainsbourg, von Triers bisher letzte ganz große Schauspielerin, brilliert in der Rolle der Mutter dieses Jungen. So geht es, dröhnend und kristallin, weiter bis zum Big Bang, mit Unterstützung Richard Wagners: das Vorspiel aus "Tristan und Isolde".
Wenn also Lars von Triers Kino einen Weltentwurf darstellt, haben wir hier die ganz große Fabel. Man könnte meinen, dass er das Ende der menschlichen Spezies herbeifantasiert, so wie alle möglichen religiösen Spinner es getan haben, um sich wichtigzumachen. Ich würde dagegen vorschlagen, dass der Regisseur zum äußersten aller Mittel gegriffen hat, um seelische Depression zu rechtfertigen. Es ist dann nämlich keine. Es ist nur eine Sensibilität für die ganz dunklen Dinge, die in fabelhafter Verkehrung in dieser Filmerzählung die ganz Hellen sind.
Da ist er also, der Mann. Er kommt gerade, sagt man, vom Filmset. Filmemachen ist das Schlimmste für ihn. Er kämpft mit dem Alkohol, mit den Drogen; natürlich. Ein Genie! Ein Wrack! Und klar, der hat gar keine Lust auf Fragen. Was er von Björks Vorwürfen hält, zum Beispiel. Ob er bereut, was er in Cannes bei der Vorstellung von "Melancholia" Wirres über Hitler gesagt hat. Kein Wort, kein Satanszeichen, nichts. Nur dieses Blinzeln – damit hatte ich nicht gerechnet.