Die Schwarze Bürgerrechtsaktivistin Angela Davis hätte eine der prägenden Figuren des deutschen Kunstjahres 2020 werden können. In der Kunsthalle im Lipsiusbau in Dresden schlägt die Ausstellung "1 Million Rosen für Angela Davis" einen gewaltigen Bogen: Sie beginnt 1970 beim sozialistischen Internationalismus und der großen DDR-Solidaritätskampagne für die damals wegen Terrorverdachts inhaftierte Philosophin. Von dort aus öffnet sie sich mit zeitgenössischen Werken den Themen Überwachung, Rassismus und neuen Formen des Aktivismus in einer beschleunigten Medienwelt.
Die Gruppenschau, die von Kuratorin Kathleen Reinhardt seit mehreren Jahren vorbereitet wurde, hätte mit ihren großen Namen auf der Künstlerliste wohl unabhängig vom tagespolitischen Geschehen Aufmerksamkeit erregt. Doch durch die weltweiten "Black-Lives-Matter"-Proteste und die Diskussionen über Erinnerungskultur drängte sie sich im Herbst 2020 als Ausstellung der Stunde auf. International relevante Themen verknüpfen sich mit einem klar umrissenen ostdeutschen Fokus.
Aber Angela Davis und ihre künstlerischen Mitstreiterinnen schlafen, und das seit gut drei Monaten. Am 10. Oktober 2020 konnte die bereits einmal verschobene Dresdner Ausstellung unter den damaligen Hygieneauflagen öffnen. Vorsichtig geschätzt haben sie um die 1000 Besucherinnen und Besucher live gesehen. Knapp drei Wochen später wurden die Museen im vieldiskutierten "Lockdown light" zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wieder geschlossen. Dann folgte nahtlos der "Lockdown nicht mehr so light", dessen Ende bisher nicht abzusehen ist. Am 24. Januar endete die offizielle Laufzeit der Ausstellung im Lipsiusbau.
Damit ist "1 Million Rosen für Angela Davis" eine der zahlreichen "schlafenden Ausstellungen", die in geschlossenen Museen fertig aufgebaut auf den politischen Erweckungskuss warten. Manche von ihnen, wie die Blockbuster-verdächtige Andy-Warhol-Retrospektive im Museum Ludwig in Köln und die Giorgio-de-Chirico-Schau in der Kunsthalle Hamburg, waren noch gar nicht für Publikum zu sehen. Andere wurden Finissage-los und ziemlich unglamourös im Lockdown abgebaut. Mit ein wenig quantenphysischer Großzügigkeit könnte man von "Schrödingers Ausstellungen" sprechen: gleichzeitig da und nicht da. Die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Marion Ackermann nannte diese Schauen in der "Welt am Sonntag" kürzlich "lost exhibitions".
Wie Tetris spielen im 500. Level
Während die deutsche Museumslandschaft von außen also gerade ziemlich eingefroren aussieht, wird hinter den Kulissen um deren Programm gekämpft. "Es fühlt sich an wie Tetris im 500. Level", sagt "Angela-Davis"-Kuratorin Kathleen Reinhardt am Telefon. Die Verschiebung oder Verlängerung einer Ausstellung, noch dazu einer Gruppenschau mit ausgeliehenen Werken, ist für Institutionen ein organisatorischer Kraftakt, bei dem ziemlich viel ineinander passen muss: Leihgeberinnen und Leihgeber müssen zustimmen, Versicherungsverträge angepasst und zusätzliche Mittel aufgetrieben werden. Wenn die Schauen weiterziehen sollen, kommen noch andere Museen mit allen Variablen ins Spiel. Bei empfindlichen Gemälden oder Arbeiten auf Papier kann es aus konservatorischen Gründen Beschränkungen geben, wie lange sie am Stück in einem Ausstellungsraum hängen dürfen. Bei einer gelungenen Umplanung müssen natürlich auch die Anschlussprojekte verschoben werden, und alle genannten Probleme rufen erneut nach einer Lösung. Dabei ist in der derzeitigen Pandemielage nicht einmal sicher, ob sich das Verschieben einer Schau um einige Monate lohnt und Ausstellungen vor Ort gesehen werden können. Verlässliche Planung, sagt Kathleen Reinhardt, sei für die Museen gerade für ungefähr 2023 möglich.
Die Kuratorin für zeitgenössische Kunst am Dresdner Albertinum, die im ersten Lockdown im Frühjahr noch Angst hatte, dass die Angela-Davis-Ausstellung gar nicht eröffnen kann, zeigt sich heute dankbar über die drei Publikumswochen im Oktober. Und dank des ausdauernden Puzzlens in Dresden kann die Schau nun bis Ende Mai verlängert werden - auch wenn nicht alle Exponate bleiben können und das "Center for Unfinished Business" der Kunstplattform "ContemporaryAnd" weiterziehen muss.
Reinhardt ist froh darüber, dass die Debatte um die Öffnung der Museen inzwischen begonnen hat. Die Hoffnungen der Kunstwelt in Sachsen richten sich auf eine stufenweise Öffnung im März - auch wenn die Ausbreitung von Virusmutationen Prognosen bereits wieder erschweren. Während sich die meisten Mitglieder des Kunstbetriebs digital vernetzen und sich trotz Schließungen inhaltlich auf dem Laufenden halten, fällt gerade für ältere und weniger netzaffine Besucherinnen und Besucher das Museum als Entdeckungs- und Entlastungsort weg. Und auch für ein Online-Publikum lassen sich Ausstellungen, die im physischen Raum konzipiert wurden, nur bedingt vermitteln.
"Die Ausstellung im Raum ist der Nukleus"
Die schlummernde Museumskunst wirft auch grundsätzlichere Fragen zum Ausstellungsmachen auf. Digitale Kunstwerke, die theoretisch unbegrenzt reproduzierbar sind, werden in der Praxis auf eine bestimmte Stückzahl limitiert und sind oft an Installationsarchitektur geknüpft. Sie sind faktich also ähnlich ortsgebunden wie eine Edition in einem anderen Medium. Soll man ein Videokunstwerk vor der Schrumpfung auf dem Handy-Bildschirm schützen, oder sollte die eingeschlossene Kunst als Stream verfügbar und damit demokratischer sein? Gibt man kostenlos her, wofür sonst Eintritt gezahlt wird? Diese Punkte muss jedes Museum im Einzelfall mit den jeweiligen Künstlerinnen und Künstler und ihren Galerien klären. So hat zum Beispiel der Künstler Arthur Jafa, der seine Videoinstallationen sonst auf Leinwänden im Kinoformat und mit wummernden Bässen zeigt, seine Arbeit "Love Is The Message, The Message Is Death" aus der Angela-Davis-Ausstellung für Online-Workshops der Kunstsammlungen Dresden zur Verfügung gestellt.
Kathleen Reinhardt sieht digitale Formate, die unter anderem in Kooperation mit dem Goethe-Institut New York stattfinden sollen, auch als Chance, Menschen außerhalb des traditionellen Museumsradius auf eine Ausstellung aufmerksam zu machen. Ein schlafende Schau ist trotzdem ein Stich ins Kuratorinnenherz. "Die Ausstellung im Raum ist der Nukleus", sagt sie ."Ich hoffe sehr, dass sie noch einmal eröffnen kann, aber es sieht momentan tatsächlich gut dafür aus."
Aufmerksamkeitsökonomie wird sich verändern
Inwiefern sich einige der "lost exhibitions" doch noch ins öffentliche Bewusstsein mogeln und ob die potenziellen Blockbuster eine Chance als Publikumsmagnet bekommen, hängt vom weiteren Pandemieverlauf und der Öffnungsstrategie der einzelnen Bundesländer ab. Doch nicht alle vom Lockdown abgewürgten Projekte werden verlängert werden können. Und schon jetzt zeichnet sich ab, dass reine Besucherzahlen für lange Zeit kein Gradmesser mehr für den Erfolg einer Ausstellung sein werden - was auch die Aufmerksamkeitsökonomie im Kunstbetrieb verändern dürfte.
Derweil wartet die Rosenmillionärin Angela Davis in Dresden weiter auf ihre museale Auferstehung. Ein Bestandteil der Ausstellung wirkt gerade besonders metaphorisch: die politischen Blumenbouquets der kanadischen Künstlerin Kapwani Kiwanga, die den floralen Schmuck bei Unabhängigkeitsfeiern afrikanischer Staaten nachbilden lässt. Die vergänglichen postkolonialen Monumente welken nun im geschlossenen Lipsiusbau der Unkenntlichkeit entgegen. Maximal zwölf Monate dürfen sie (normalerweise unter Beobachtung) vor sich hinkompostieren. Die schlappen, einsamen Blumen passen erstaunlich gut zum verbreiteten Gefühl des Vegetierens im Lockdown. Es bleibt nur zu warten, bis daraus erneut fruchtbarer Boden für die Kunst entsteht.