Max Pitegoff und Calla Henkel in Berlin

Was bedeuten diese Bretter der Welt?

Max Pitegoff und Calla Henkel sind für ihre Theaterprojekte in Berlin bekannt, die immer die Bühne und die Realität vermischten. Auch ihre Ausstellung im Fluentum in Dahlem ist ein schillerndes Rollenspiel

Im Schlusskapitel seines Roman-Erstlings "Der Verschollene" deutet Franz Kafka für den jungen Karl Roßmann, der in Amerika fast unter die Räder gekommen ist, eine bessere Zukunft als Mitglied des "Naturtheaters von Oklahoma" an. Dieses verspricht allen Bewerbern Arbeit und Heimat. 

Da wir nur das gigantische Casting auf einer Rennbahn mitbekommen, bleibt unklar, um was für einen Theaterbetrieb – oder Wanderzirkus? – es sich genau handeln soll. Mit einer unheimlichen Zugpassage in Richtung Oklahoma durch zerklüftetes Gebirge bricht die Erzählung ab. Kafka hat seinen Roman, wie die späteren, nicht vollendet. Das Naturtheater bleibt ein Rätsel; vielleicht handelt es sich um eine Metapher – entsprechend dem "Theatrum mundi" als Sinnbild der Eitelkeit und Nichtigkeit der Welt.

Theater, das alles bedeutet, oder auch nichts: Da sind wir bei Calla Henkel und Max Pitegoff, die im Privatmuseum Fluentum in Berlin-Dahlem ihr Videoprojekt "Theater" zeigen. Es funktioniert wie eine Serie, von der zunächst einmal drei Episoden zu sehen sind. Die junge (aber anders als Karl: nicht minderjährige) Protagonistin hat zunächst den ganzen Großraum Los Angeles zum "Spielen". Sie fährt im Auto umher, lernt Schauspielerinnen und Schauspieler kennen und stellt auf Parkplätzen Stuhlkreise auf, in denen niemand Platz nehmen will. 

Träum weiter!

Kennedy, so heißt die Haupfigur, träumt davon, ein Ensemble zu gründen. Wie Kafkas Karl sucht sie eine Heimat. Ein Unfall katapultiert die von der Filmemacherin Leilah Weinraub gespielte Heldin auf die nächste Ebene: Vom Schmerzensgeld kauft sich Kennedy ein Theater. Dort ist sie mit sich allein, wohnt und schläft auf der Bühne, putzt sich in leeren Sesselreihen die Zähne, träumt weiter. Dann beginnt sie, Stimmen zu hören, die Passagen aus dem Stück "Endstation Sehnsucht" rezitieren. Verliert sie den Verstand, gleich der seelisch zerrütteten Blanche Dubois bei Tennesee Williams?

Im und über dem Marmor-Foyer des Fluentum an der Berliner Clayallee müssen wir uns von Folge zu Folge bewegen – für "Theater. Episode 3" sogar die ehrfurchtgebietende Treppe hinauf; die dritte Großprojektion wird vor den Türen des Kennedysaals im ersten Stock gezeigt. Der düster-elegante Aufführungsort drückt dem Werk seinen Stempel auf: Wir sind im Zentralgebäude des ehemaligen Hauptquartiers der US-Streitkräfte, das ursprünglich Teil einer von den Nazis erbauten Luftwaffenzentrale war. 

Der Softwareunternehmer und Kunstförderer Markus Hannebauer hatte das Haupthaus 2016 erworben und zum zeitgenössischen Kunstraum – vor allem fürs Bewegtbild – umgewidmet. Hannebauer ist aber nicht nur Sammler, sondern auch Produzent von Werken, darunter auch von Yael Bartanas Video "Farewell", das zurzeit im Deutschen Pavillon der Venedig-Biennale gezeigt wird.

"Angezogen von einer einzigen Flamme"

Ebenso wurde "Theater" von Fluentum produziert. Am Ort der Uraufführung, der nicht zuletzt ein Denkmal des Zweiten Weltkriegs sowie des Kalten Krieges ist, wird die Parallele kein Zufall sein: Die Serienheldin trägt den Namen eines US-Präsidenten. Kennedy ist zwar nicht mächtig, aber sie wünscht sich Überzeugungskraft. "Ein Ensemble sollte es sein. Alle sollten an dieselben Dinge glauben. Angezogen von einer einzigen Flamme", heißt es in einem der Untertitel. In "Theater" gibt es keine Dialoge, nur die eingeblendete erlebte Rede. 

Drei Stummfilme fast – mit dem Sounddesign des Künstlers und Komponisten MK Velsorf. Seine aufwendig instrumentierte Musik entspricht der mäandernden, quasi antidramaturgischen Erzählung. Zu hören sind zumeist Klangflächen, Cello-, Piano- oder Synthesizer-Akkorde –, die keine Melodie, keinen "roten Faden" ergeben.

Calla Henkel und Max Pitegoff, die sich nach wie vor als Fotoschaffende (im stark erweiterten Sinn) betrachten, wurden 1988 und 1987 in den USA geboren. Schon während ihres Studiums an der Cooper Union in New York betrieben sie im gemeinsamen Atelier eine Bar. 2011 zogen sie nach Berlin, wo sie ihre Praxis der Herstellung sozialer Räume weiterentwickelten. Angefangen mit der Times Bar in Neukölln (bis 2012), in der Drinks serviert und Tanzpartys veranstaltet wurden, eröffnete oder nutzte das Duo halböffentliche Orte als Produktionsstätten, wobei sie in ihre Praxis zahlreiche befreundete Künstlerinnen, Musiker oder Schriftstellerinnen einbezogen. 

Wenn Prekarität und Gentrifizierung zwei Seiten derselben Medaille sind

Die Times Bar und später die TV Bar an der Potsdamer Straße in Schöneberg (2019 bis 2022) waren Kunsträume und herkömmliche Kneipen in einem. Man finanzierte sich damit. Im Klappentext der im Oktober erscheinenden Monografie über Henkel und Pitegoff ("German Theater 2010-2022" ist bei Fluentum schon jetzt für 42 Euro erhältlich) heißt es treffend: Ihr Werk, "das auf einem neuen konzeptionellen Ansatz der Fotografie beruht, ist eine Allegorie jenes historischen Moments, in dem Prekarität und Gentrifizierung zwei Seiten derselben Medaille sind."

Mit dem Projekt "Times Athens" versuchten Henkel und Pitegoff, die Bar von Berlin nach Athen zu transferieren, von einer gentrifizierten Metropole in eine andere Stadt, die im Prozess der internationalen Spekulation aufstrebte. Die in der Times Bar dokumentierten Gesprächsfetzen führten dann zum New Theater (2013-2015), in dem das Duo mit diversen Kollaborateurinnen Stücke produzierte. 

Zwischen 2017 und 2018 leiteten Henkel und Pitegoff den Grünen Salon an der Berliner Volksbühne – während der bis heute umstrittenen Intendanz des belgischen Kurators Chris Dercon. "I am not very fond of preserving German culture", erklärt Calla Henkel in einem Interview in der erwähnten Neuerscheinung, "as I think most of it should be burned to the ground" – sie sei nicht besonders scharf darauf, deutsche Kultur zu erhalten, das meiste davon sollte ohnehin zertrümmert werden. Bevor die Schnappatmung einsetzt, denkt der German boomer und Bildungsbürger noch mal kurz darüber nach, ob das vielleicht ironisch, hyperbolisch oder sonst irgendwie – uneigentlich gemeint sein könnte.

Jeder führt eine Doppelexistenz

Was Henkel und Pitegoff unter "Theater" eigentlich verstehen, ist ohnehin verschwommen. Vielleicht schärft sich der Begriff, womöglich verschwindet er auch wieder aus ihrer Praxis. Darin vermischen sich Imagination und Alltag, Fantasie und Pragmatismus; Idee und Ausführung fallen nicht selten zusammen. 

Wie in der Fotoserie "Casts", die in aktualisierter Version im Entree der Ausstellung zu sehen ist. Da werden Porträts von Künstlerinnen und Kollaborateuren zu möglichen Ensembles arrangiert. Jede und jeder von ihnen führt eine Doppelexistenz als fiktiver Charakter und reale Person. Wie ihrer Figur Kennedy scheint auch dem Duo die Idee "Ensemble" erstmal zu genügen. 

"Es handelt sich beim festen Ensemble um ein großartig-größenwahnsinniges Langzeitexperiment", schrieb Peter Kümmel 2018 in der "Zeit", "um den Aufbau eines Kollektivs, das von Möglichkeiten lebt, von Menschenmöglichkeiten. Und um die nicht weniger relevante Entwicklung eines Publikums, das dieses Ensemble von Möglichkeitsmenschen dabei begleitet, wie es sich verwandelt – wie es in Verwandlungen lebt. Auf Ensembles beruht der Reichtum des deutschen Theaters. Wer dessen Geschichte missachtet, verspielt diesen Reichtum". Damit zielte Kümmel auf Chris Dercon, der kurz zuvor endgültig an der Volksbühne gescheitert war. Der "Zeit"-Theaterkritiker ging davon aus, dass Dercon mit der Idee einer festen Besetzung nichts anfangen konnte.

Ein weiter Weg - nicht nur nach Oklahoma

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Henkel und Pitegoff das anders – und retrospektiv durchaus kritisch – sehen. Sie glaube, sagt Calla Henkel im Interview "dass es alte Strukturen des Arbeitens und des Könnens, der Werkstätten, des Ensembles gibt, für die man kämpfen musste und die von der Kunstweltmaschine, die Dercon in Kraft setzen wollte, unterdrückt worden wären."

Immerhin hat das Duo jetzt die Möglichkeit, die guten Aspekte deutscher Theatertradition nach L.A. zu tragen – wenn das irgend möglich ist. Denn der Episodenfilm "Theater" – auch hier ein Schillern zwischen Fakt und Fiktion – wurde am New Theater Hollywood gedreht, das vom Duo seit diesem Januar betrieben wird. 

Die Aufführungen, die dort real stattgefunden haben, wurden gefilmt und mit den Szenen um die fiktive Intendantin gemischt. Von der Gründung eines gemeinschaftlichen Ensembles ist Kennedy in den ersten drei Episoden noch weit entfernt. Um den Theaterbetrieb irgendwie anzukurbeln, vermietet sie ihre Bühne an Leute und Theatertruppen, die sie nicht kennt. Die Stimmen aus fremden Stücken verfolgen die Protagonistin, sie fühlt sich "verzehrt von vorübergehender Kollektivität", wie ein Untertitel erzählt. Kennedy lebt inmitten fremder Ambitionen, und man fragt sich nicht nur, wie die Heldin aus dieser Falle herauskommt, sondern inwieweit die Zwickmühle auch der womöglich leicht kafkaesken Situation von Henkel und Pitegoff im Kulturbetrieb Kaliforniens entspricht. Es ist ein weiter Weg – nicht nur der nach Oklahoma.