Abgelegener als in Herbsthausen in Gartow im Wendland kann man ein Kunstprojekt kaum planen. Eineinhalb Stunden Fahrt von Lüneburg in das abgelegene Örtchen - und mehr als zwei Stunden von Hamburg, wo das Bildhauer-Paar Camillo Ritter und Chenxi Zhong studiert hat. "Wir sind ab vom Schuss, weg von der Szene, sind unsichtbar auf dem Land", sagt der 33-Jährige. "Aber wir wollen Mut machen, unser Projekt soll Ansporn sein, die eigene Bubble in Hamburg und Berlin zu verlassen". Sie wollen Grenzgänger sein: einen Ort für zeitgenössische Kunst schaffen, aber auch regional verankert sein.
Bei der "Kulturellen Landpartei" um Pfingsten klappte das besser als erhofft. 4000 Besucher und Besucherinnen strömten auf das weitläufige Gelände des ehemaligen Sägewerks, das 1892 erbaut wurde und inzwischen den Status eines Industriedenkmals hat. Neben der Kunst gab es Konzerte in den offenen, teils verfallenen Hallen, Zhong servierte chinesische Nudelgerichte. "Es kamen deutlich mehr Leute als in Hamburg zu unseren Ausstellungen. Aber wir waren etwas überfordert", gesteht Ritter, dessen Fotografien der letzten China-Reise in die Heimat seiner Frau einen der wenigen renovierten Räume schmücken.
Auch einige Werke der 30-Jährigen sind schon zu sehen - für sie war der Umzug der größere Kulturschock. "Nach meinem Studium habe ich ein halbes Jahr in New York an einem Austauschprogramm teilgenommen, danach haben wir uns für das Wendland entschieden", erzählt Zhong, deren Familie in Chengdu wohnt, einer 20-Millionen-Metropole in China. Übergangsweise leben die beiden seit drei Jahren in der Nähe in Vasenthien, wo sie den Kunstraum "Tangente" geschaffen haben. Dann wurde ihnen das historische Sägewerk der Samtgemeinde Gartow angeboten.
"Die dritte Generation im Dunstkreis der Proteste"
"Wir haben uns verliebt in dieses schnuckelige und verwunschene Objekt", erzählt Camillo Ritter, der die Affinität zu großen Projekten von seinem Vater mitbekommen hat. Thomas Ritter ist durch das Kulturzentrum Kesselhaus Lauenau im Landkreis Schaumburg bekanntgeworden, das er nun für den neuen Standort in Gartow veräußern will. "Meine Eltern werden hier eines Tages herziehen", berichtet der Neu-Wendländer über das Familienprojekt. Die Eltern hätten auch den 2,5 Hektar großen Hof mit 220 000 Euro finanziert.
Als das Sägewerk noch in Betrieb war, war es mit bis zu 200 Angestellten ein wichtiger Arbeitgeber in der Region. Eines Tages sollen 15 bis 20 Menschen dort wohnen, die im Idealfall ihre Werkstätten und Ateliers auf dem Hof einrichten. Das hat Antje Scharmer bereits gemacht. Die Weberin besitzt ein Haus direkt nebenan und schätzt den Ort zum Arbeiten: "Ich kann die Infrastruktur nutzen und auch später die Gastro". Wenn sie Seminare gibt, können die Teilnehmer in den geplanten Gästewohnungen übernachten. Schon ihre Geschwister hätten Handwerksberufe beim früheren Besitzer Günther Herbst erlernt, der auch den Protest gegen das Atommüllendlager in Gorleben unterstützt habe, erzählt die 62-Jährige.
"Wir sind jetzt die dritte Generation im Dunstkreis der Proteste", sagt Ritter. "In eine andere ländliche Region wären wir auch nicht gezogen". Mit ihren Ideen für den kultigen Ort, für den EU-Gelder von 250 000 Euro beantragt sind, wurden sie von den Einheimischen warm empfangen. Die vielen Künstler in der Region sind in die Jahre gekommen, die jungen Leute fehlen. Der Westwendische Kunstverein wird bei ihnen einen Ausstellungsraum ab September beziehen. Vom 15. bis 26. August ist ein internationales Artcamp für junge Menschen aus der Ukraine, Belarus, Serbien und Deutschland geplant, einige können auf einer Wiese zelten.
"Starkes Bedürfnis nach Kunst auf dem Land"
Vieles erledigen Ritter und Zhong in Eigenarbeit; seine Eltern reisen zeitweise aus Hannover an. "Ein klassischer Bauherr bräuchte für alles bestimmt rund neun Millionen Euro, so viel haben wir nicht", überschlägt Ritter die Kosten für das Herzensprojekt. Nach und nach wollen sie einzelne Abschnitte fertigstellen. Nur die historische Gatterhalle, die ein neues Dach benötigt, schaffen sie nicht allein. "Das ist eine Nummer zu groß für uns, sie soll ein Museum für das Sägewerk und regionale Themen werden", erzählt Ritter, der von der Dampfmaschine von 1921 fasziniert ist und auf materielle und ideelle Unterstützung des Landes hofft.
"Ich bin beeindruckt von den Plänen für das alte Sägewerk und das Projekt Herbsthausen", sagt Landwirtschaftsministerin Miriam Staudte. "Auch auf dem Land gibt es das starke Bedürfnis nach Kunst und kultureller Identität – und, wie wir in Gartow sehen, auch jede Menge Möglichkeiten für künstlerisches Schaffen". Das Künstlerpaar habe das Potenzial eines ländlichen Standorts erkannt: viel Raum – auch für den Austausch mit anderen Künstlern – sowie eine ruhige und ungestörte Atmosphäre. Dabei biete das historische Industriedenkmal auch Kontrast und Inspiration in der ländlichen Umgebung, so die Grünen-Politikerin.