Sie möge die Dunkelkammer nicht, erklärt die Titelfigur des Romans "Vivian", "es riecht so stark, und ich rieche Sachen intensiver als andere (und ich rieche auch Sachen, die niemand anders riechen kann), das konnte ich schon immer."
Vivian Maier (1926-2009) war außergewöhnlich. 40 Jahre verdingte sie sich als Kindermädchen in Chicago. Heimlich fotografierte sie wie verrückt. Ihre Street Photography überzeugte die Fachwelt – postum, weil sie kaum Vergrößerungen herstellten ließ und oft nicht einmal die Negative zum Entwickeln brachte. Großer Bilderhunger, wenig Geltungsdrang? Rund 100.000 Aufnahmen hat sie hinterlassen, aber kein Tagebuch. Wie sah es in ihr aus? Ohne Interviews mit denen, die sie kannten, kam weder der Dokumentarfilm "Finding Vivian Maier" (2013) noch die 2017 erschienene Biografie von Pamela Bannos aus.
Die Dänin Christina Hesselholdt hat eine Textcollage geschrieben, in der sie verschiedene Stimmen zu Wort kommen lässt: Maier (als "Viv" angeführt), ihre Mutter, ihre Mentorin, die Porträtfotografin Jeanne Bertrand oder die fiktive Familie Marsh, bei der die seltsame Nanny zeitweilig arbeitet, wohnt und in ihrem Refugium Zeitungen und anderes Zeug hortet.
"Da ist Ellen, das Kind, das ein wenig zu dick ist", lässt Hesselholdt Viv sagen. Ellen Marshs’ Passagen zählen zu den eindrücklichsten im Buch. Wenn das Kindermädchen sie etwa zu einem Streifzug zu den Chicagoer Schlachthöfen mitnimmt. "Ich habe nicht geglaubt, sie wäre Mary Poppins", sagt Ellen. Die Kinder – hier zu einer Figur zusammengezogen – wurden von Maier gefordert, bisweilen überfordert, mitunter gequält.
Die Übergänge von der Historie zur Fiktion irritieren
Ist Maier als Kind missbraucht worden? Dafür gibt es keine Quellen. Doch in "Vivian" wird eine solche traumatische Szene geschildert. Solche Übergänge von der historischen zur fiktiven Vivian irritieren. Näher an der Überlieferung gelingen der Autorin literarisch starke Momentaufnahmen: Ein Junge auf dem Fahrrad wird von einem Auto erwischt, schlägt einen Salto. Nachbarn eilen herbei, helfen dem Verletzten. Vivian zückt ihre Rolleiflex.
Die Autorin hat eine Erzählerfigur installiert, die sich regelmäßig einmischt, mit den Charakteren diskutiert, mitunter jäh die Perspektive wechselt: "Gibt es da draußen noch irgendjemanden, den es wundert, dass Vivian ihren Arbeitgebern nie etwas von sich erzählte? Mein Bruder ist ein Junkie, mein Vater ein gewalttätiger Säufer, meine Mutter ist stinkend faul und schnorrt sich bei anderen durch, wann immer sich die Gelegenheit bietet, und noch dazu können sie einander nicht ausstehen."
Hinter dem "Erzähler" (hier hat die Übersetzerin ein Problem – im Dänischen existiert kein generisches Maskulinum) wird zeitweilig die Autorin selbst sichtbar, die 2016 in Helsingborg wohl erstmals Fotos von Maier sah ("Liebe Viv, du hast mich über den Sund gezogen"). Die Erzählerfigur erlaubt es Hesselholdt, ästhetische Fragen mit ihrer Protagonistin zu diskutieren. Vivian neigt dazu, den Thesen über ihr Werk zu widersprechen. So wird ihr Schaffen kommentiert, ohne fixiert zu werden. Gut so. "Die Leute lieben Rätsel, das Unabgeschlossene und das Unerklärliche sind wahnsinnig anziehend", sagt Viv und fügt hinzu. "Ich bin die geheimnisvolle Dame, die durchgesägte Dame, deren Vergangenheit abgetrennt wurde".
Doch war es nicht Maier selbst, die ihre Geschichte abzuschütteln und in absoluter Gegenwart zu leben versuchte? Und entsprechend auch fotografierte, vielleicht um Bilder mit Bildern zu tilgen.